Ballettstar Eric Gauthier (links) und VfB-Profi Christian Gentner mit ihren Frauen in der Schwabenwelt von Festwirt Michael Wilhelmer. Foto: Feuster

Karamba, Karacho – wer sich vom Sog des Volksfestes mitreißen lässt, genießt es, wenn er zum Teil der Menge wird. Das dampfende Bierzelt ist eine Welt für sich – eine verdrehte Welt, in der Heino mit 77 zum jungen Spund wird und in der es Champagner für 85 000 Euro gibt. Am Sonntag endet der Ausnahmezustand. Eine Kolumne über das Massenphänomen Wasen, das auch etliche Promis anlockt.

Stuttgart - Das Volksfest ist eine Auszeit vom Alltag, in der man kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn gutes Benehmen und Selbstzwänge pausieren. Auf dem Cannstatter Wasen darf man die anderen „Säcke“ nennen und im Chor „Prost du Sack“ brüllen.

Ohne Murren folgt man Befehlen wie „Jetzt die Krüge hoch“ und den ungeschriebenen Kleidervorschriften. Das Individuum geht in der Masse auf – in der feiernden Menge leben sich selbst Feingeister aus, wie sie das sonst nie tun.

Die Tracht hat wenig mit Heimatliebe zu tun, mit der Verneigung vor der ländlichen Tradition. Dirndl und Lederhosen geben die Chance, erotische Signale zu senden. Wer glaubt, dass nur Frauen mit ihren Ausschnitten tief blicken lassen, hat die männlichen Verzierungen an aufknüpfbaren Stellen der Lederhosen noch nicht beachtet.

Der Champagner-Umsatz steigt von Jahr zu Jahr

Wenn sich Menschen vergnügen wollen, hat das Menschliche und Allzumenschliche schon immer allzu sehr dazugehört. Das Cannstatter Volksfest ist ein Massenphänomen seit bald 200 Jahren – und hat in jeder Epoche Überraschendes hervorgebracht. Haute Cuisine und Champagner auf dem Bierfest zählen zu den Erfindungen der neuen Zeit. „Der Champagner-Umsatz steigt bei uns von Jahr zu Jahr“, sagt Festwirt Michael Wilhelmer. Sein Zelt heißt Schwabenwelt. Wie schwäbisch ist es, wenn die teuerste Champagnerflasche auf der Karte schlappe 85 000 Euro kostet?

Die Kellner, die im Bierzelt Champagner servieren, verdienen im gesamten Jahr nicht so viel Geld, wie sie für das beste Stück aus dem Schampus -Kühlfach verlangen müssen. 85 000 Euro für ein kurzes Vergnügen – wer findet das prickelnd? Das hat was von Angebertypen, die Geldscheine zur Zigarette drehen und sie verbrennen – nur um zeigen zu können, was sie sich leisten können. Die 85 000-Euro-Flasche ist ein dekadenter Auswuchs des Volksfestes – zumindest in der Theorie. Was könnte man mit diesem Geld nicht alles Gute tun! Aber in der Praxis sieht es so aus, dass Wilhelmer bisher keine einzige Flasche davon verkauft hat, was für die Besucher spricht. „Der Wasen ist aber noch nicht rum“, sagt der Festwirt.

Eigentlich hätte Wilhelmer seinen Stargast Heino mit so einer Flasche bezahlen können. Kurzfristig ist der 77-Jährige für den erkrankten und um sechs Jahre jüngeren Mallorca-King Jürgen Drews eingesprungen – er kam aus Kitzbühel.

Hut ab, Herr Heino! Wer ihn nicht gesehen hat, glaubt nicht, mit wie viel Energie und professionellem Können der ewig blonde Sänger seine Show abzieht, mit Schlagern sowie Coverversionen wie „Junge“ von den Ärzten. „Großartig“, schwärmt Ballett-Intendant Eric Gauthier, der kurz vor dem Heino-Auftritt mit Ehefrau Laura Gauthier Achterbahn gefahren ist. Auf den Temporausch im Auf und Ab der Wilden Maus folgt das berauschende Massenerlebnis im Wilhelmer-Zelt. In der oberen Loge-Etage trifft Gauthier den VfB-Profi Christian Gentner mit dessen Frau Verena. Seit der Mittelfeldspieler in Gauthiers köstlichem Zeitlupen-Fußball-Drama „Freistoß“ als Balletttänzer aufgetreten ist, sind die beiden befreundet. Und stimmen nun mit ein, wenn es darum geht, Heinos Enzian zu rühmen, der so blau, blau, blau ist wie viele Zeltbesucher.

Viele Besucher kommen von weither

Aus Hamburg ist Jürgen Marx eingeflogen, der bei der Stage-Entertainment den Musicals im Süden vorsteht. Auf dem Flughafen, sagt er, habe er sehr viele in Tracht gesehen, was sich mit den Erkenntnissen der Wirte deckt, wonach immer mehr Wasenbesucher von weither kommen. Warum Marx an diesem Abend da ist? „Ich muss ein Heino-Musical klarmachen“, sagt er mit einem Lachen. Auf dem Wasen werden viele Witze gemacht. Obwohl nach Udo Jürgens, Udo Lindenberg und Abba der Heino auf der Musicalbühne nicht völlig abwegig ist.

Karamba, Karacho – die Verwandlung der Menschen in Partytiere wird am Sonntag schon wieder gestoppt. So manch ein Sackgesicht dürfte deshalb lang werden. Jetzt können Gentner beim Fußball und Gauthier im Theater zeigen, dass kollektive Glücksgefühle nicht ausgehen müssen.