Ein Stammtisch ohne Wimpel oder schmiedeeisernes Schild? Das geht gar nicht! Foto: Wolfgang Maria Weber/Fotolia

Es steht schlecht um ein urdeutsches Original – den Stammtisch. Das Kneipensterben und Niedergang der Dorfwirtshäuser macht ihm schwer zu schaffen.

Stuttgart - Der Stammtisch gehört zur deutschen Alltagskultur wie Kehrwoche und Schützenfest. Doch der Ort bürgerlicher Befindlichkeit und klarer Worte ist bedroht. Das unaufhaltsame Sterben der Gasthöfe, Schankwirtschaften und Kneipen macht auch ihn zum Auslaufmodell. Von mehr als 70 000 Wirtshäusern, die das Statistische Bundesamt (Destatis) noch 1994 verzeichnete, gibt es heute weniger als die Hälfte.

Der Stammtisch – eine aussterbende Art

Laut dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) steht es schlecht um die Dorfschenke und Eckkneipe – auch in Baden-Württemberg. In Bayern gibt es nach Aussage von Florian Kohnle, Doktorand am Lehrstuhl für Kulturgeografie der Universität Eichstätt-Ingolstadt, in rund einem Viertel der 2200 Gemeinden überhaupt kein Gasthaus mehr. Im Südwesten sieht es nicht viel besser aus.

Die Gründe für den Schwund sind vielfältig: Bevölkerungsrückgang auf dem Land, weniger Stammkunden, Mobilitätszuwachs, veränderte Arbeitswelt und Freizeit, Konkurrenz durch Vereinsheime. Hinzu kommt, dass viele Wirte keinen Nachfolger finden und die eigenen Kinder lieber in die Stadt ziehen oder ein sicheres Einkommen der Selbstständigkeit als Kneipier vorziehen.

Was sagt der Kulturwissenschaftler?

Der Kulturwissenschaftler Frank Lang, Kurator am Landesmuseum Württemberg in Stuttgart und am Museum der Alltagskultur Schloss Waldenbuch, erläutert im Interview, was die Stammtischkultur so unschätzbar wichtig macht und wieso sie sich trotzdem im Sinkflug befindet.

Frank Lang. Foto: Landesmuseum
Herr Lang, was ist los mit Deutschlands Stammtischen? Was sagt der Kulturwissenschaftler über den schleichenden, scheinbar unaufhaltsamen Niedergang einer urdeutschen Institution?
Mit dem Aufkommen des Fernsehens in den späten 1960er und 1970er Jahren als Massenphänomen kam die erste große Krise des Stammtisches in Deutschland. Die Wirtshauskultur verlor ein Stück Rückhalt gegenüber der Wohnkultur. Heute entwickeln sich neue Formen des Stammtisches, die in Richtung Salon gehen. Man lädt sich in privater Atmosphäre ein, um verschiedene Themen zu diskutieren und zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen.
Der Stammtisch verlagert sich vom öffentlichen Raum ins Private?
Er wird ersetzt durch gezielte und regelmäßige Treffen, die durch den Terminkalender vorgegeben werden. Was traditionell als Stammtisch begriffen wird, ist eine unvereinbarte Sache. Man trifft sich um einen besonderen Tisch in einem bestimmten Lokal. Durch die Häufigkeit der Präsenz wird man irgendwann zum Mitglied des Stammtisches. Das ist etwas ganz anderes als wenn ich mit bestimmten Leuten einen Termin ausmache und Essen gehe, auch wenn sich das Stammtisch nennt.
Früher gehörten Zigaretten, Zigarren und Pfeife zum Stammtisch wie Pils, Weizen und Korn. Ist das Rauchverbot der Sargnagel für die Stammtischkultur?
Tatsächlich hat es mit dem Rauchverbot in Deutschland einen weiteren Einschnitt neben dem Fernsehen gegeben. Seit Einführung der Nichtraucherschutzgesetze ist das Rauchen in Gaststätten bundesweit verboten (Nordrhein-Westfalen und Thüringen waren im Juli 2008 die letzten Bundesländer, die Zigaretten für tabu erklärten, d. Red.). Mit dem Verschwinden der Aschenbecher in den Wirtshäusern, die plötzlich obsolet geworden waren, verschwanden auch die Stammtische.
Was sind die typischen Ingredienzien des Stammtisches?
Rauchen und Trinken gehören dazu, genauso wie die Kommunikation, das freie Sich-Unterhalten, die Stammtischparolen und die besondere Art der Vereinfachung von komplexen Zusammenhängen, die zur Meinungsbildung beitragen.
Gerade dieser ganz besondere kommunikative Stil des Stammtischs ruft Kritiker auf den Plan.
Am Stammtisch werden schwierige Zusammenhänge auf ein einfaches Niveau heruntergebrochen. Das kann man positiv und negativ sehen. Für viele ist es aber auch eine echte Hilfe, wenn plötzlich Politik oder Wirtschaft verständlich werden.
Und das ist Teil der Alltagskultur?
Das ist eine hohe Qualität des Stammtisches. Dort werden soziale Brücken auch zwischen nicht-homogenen sozialen Schichten geschlagen. Man findet dort sowohl Unternehmer, Analphabeten, Studenten – eine super-heterogene soziale Mischung. Ich glaube nicht, dass die sozialen Netzwerke im Internet das ersetzen können.