Im Jahr 2100 ist das hiesige Klima zu trocken und heiß für Riesling - davon gehen Klimaexperten aus Foto: Leserfotograf rena

Der Klimatologe Jürgen Baumüller geht davon aus, dass das Klima in der Landeshauptstadt im Jahr 2100 dem auf Sizilien heute gleicht. Seine Tochter Nicole Baumüller, Stadtplanerin in Stuttgart, sucht mit ihren Kollegen Lösungen, damit die Stuttgarter dann nicht wie im Backofen leben müssen.

Stuttgart – - Herr Baumüller, Frau Baumüller, haben Sie heute schon aufs Thermometer geguckt?
Er: Ein wunderschöner Tag mit über 10 Grad. Im Januar hatten wir schon 14 Grad, und der vergangene Samstag war auch recht freundlich.
Sie: Wir genießen Frühlingstage im Winter.
Das wärmste Jahr seit Aufzeichnung der Wetterdaten ab 1951 am Schnarrenberg liegt hinter uns, sogar das wärmste Jahr seit 130 Jahren. Was kommt noch auf uns zu?
Er: 2014 war sogar das weltweit wärmste Jahr! Die Sommer werden heißer, die Winter milder und die Zeiten stürmischer. Zur Jahrhundertwende werden wir in Stuttgart Temperaturen wie auf Sizilien haben. Jedes Grad mehr rückt uns klimatisch 250 Kilometer Richtung Süden. Im Moment sind wir auf der Höhe von Mailand angekommen.
Besorgt Sie das?
Sie: Im Blick auf Stuttgart weniger. Global betrachtet schon. In Afrika wird es noch heißer und trockener. Die Hungersnöte werden weiter zunehmen. Es wird mehr Unwetter, mehr Überschwemmungen geben, die die Menschen um ihre Existenz bringen – mit dem Effekt, dass es in der Zukunft auch Klimaflüchtlinge geben wird.
Er: Sommer wie der Wüstensommer 2003, als die Leute im Auto spazieren gefahren sind, weil es im Wagen eine Klimaanlage gab, werden die Regel. Damals sind europaweit etwa 50 000 bis 70 000 Menschen der Hitzewelle zum Opfer gefallen.
Wie lebt es sich in Stuttgart 2100?
Sie: Sämtliche Wohnungen sind dann klimatisiert. Im Sommer sind die Straßen und öffentlichen Plätze in der Innenstadt mittags und nachmittags wie ausgestorben. Im Frühling und Herbst hält man sich dafür länger als heute im Freien auf. Und im Winter muss nicht mehr so viel geheizt werden.
Und was passiert mit Stuttgarts Markenzeichen: dem Wald und den Reben?
Er: Im Jahr 2100 wird es keinen hiesigen Riesling mehr geben. Die Rebsorte braucht kühle Nächte. Neue Rebsorten, solche, die heute in Italien gedeihen, werden angebaut. Und, das hab’ ich gelesen, Bier hat kaum noch Schaum. Denn durch den Anstieg von Kohlenstoffdioxid enthält Getreide weniger Protein. Und es ist das Protein, das Bier schäumen lässt. Außerdem werden sich die Wälder verändern, und es wird mehr Buchen und Eichen geben, da die Hitze vertragen.
Sie: Und wir werden dann mehr Biergartentage haben. Die Außengastronomie wird wachsen. Das macht die Stadt lebendig.
Was bedeutet eine solche Entwicklung für die Stadtplanung?
Er: Im Baugesetzbuch ist verankert, dass die Klimaanpassung in der Stadtplanung berücksichtigt werden muss. Leider heißt das nur, dass sich die Planer damit beschäftigen, nicht aber, dass sie handeln müssen.
Klingt, als seien Maßnahmen vom guten Willen der Kommunalpolitiker abhängig.
Sie: Der Wille ist in Stuttgart da. Die Chancen stecken in einer klimagerechten Stadtplanung. Oft geht es ums Umbauen und Sanieren. Sollen zum Beispiel Fabrikgelände für Wohnbebauung genutzt werden, können die Neubauten so angeordnet werden, dass die Luftzufuhr optimal ist. Außerdem lassen sich bei neuen Gebäuden Dach- und Fassadenbegrünung gut einplanen und in Neubaugebieten Bauminseln schaffen und Flächen mit wasserdurchlässigem Belag anlegen. Das ist sinnvoll, weil so Wasser verdunsten kann. Dadurch wird es kühler. Wo es möglich ist, muss die Bebauung durchgrünt werden. Schattenspendende Bäume und Wasser machen die Stadt trotz Klimawandels zum lebenswerten Raum. Außerdem müssen klimarelevante Flächen für die Bebauung absolut tabu sein.
Der Wohnungsbau soll vorangetrieben, aber auch Flächen aus Gründen des Klimas erhalten werden. Wie passt das zusammen?
Sie: Trotz des Siedlungsdrucks sollten Waldflächen und alle wichtigen klimatischen Grünflächen nicht bebaut werden. Deshalb muss neuer Wohnraum durch Umnutzung von Flächen geschaffen werden wie zum Beispiel im Neckarpark. Die Entscheidung liegt bei der Politik.
Er: Grün ist immer richtig. Das meine ich völlig unpolitisch. Nachdenken kann man auch über den Vorschlag von Roland Ostertag. Der Architekt regt an, Quellen freizulegen und das Wasser in die Stadt zu führen.
Was sind in Blick aufs Klima die schlimmsten Bausünden in Stuttgart?
Er: Das neue Innenministerium an der Willy- Brandt-Straße, das Allianz-Hochhaus am Karlshügel, das Hochhaus beim Südheimer Platz Richtung Schattenring und die LBBW-Bank auf dem Areal A1 hinterm Hauptbahnhof hätten nicht gebaut werden dürfen. Denn die Gebäude blockieren die Frischluftzufuhr. Dadurch verschlechtert sich das Stadtklima.
Wird sich das durch die Bebauung des Gleisbereichs nicht noch weiter verschlechtern ?
Er: Mit der Bebauung geht es frühestens 2030 los. Die Gutachten dafür sind bereits 20 Jahre alt. Die Frage, welche Flächen man wie überbauen will, muss neu gestellt werden.
Geraten sich der Vater als Klimaexperte und die Tochter Stadtplanerin manchmal in die Haare?
Beide gleichzeitig: Nein.
Sie: Da ich derzeit über den Klimawandel und Stadtentwicklung promoviere, habe ich viel über das Thema gelernt. In die Ausbildung von Stadtplanern und Klimatologen sollte der jeweils andere Bereich einbezogen werden, damit beide die gleiche Sprache sprechen und an einem Strang ziehen.
Was erwarten Sie, Herr Baumüller, von Ihrer Tochter als Stadtplanerin?
Er: Dass sie ein Problembewusstsein entwickelt und ihr Wissen in die Praxis einbringt.
Sie: Meine Vision ist die kompakte Stadt der kurzen Wege. Gelingt es nicht, die Innenstadt trotz Hitze lebenswert zu machen, werden sich die Menschen nur noch in den klimatisierten Einkaufszentren aufhalten und sich wie in den USA nur noch im Auto bewegen. Amerikanische Städte kann aber keiner wirklich wollen.