Die Schwarzbraune Tannenrindenlaus Foto: privat

Wer würzigen Waldhonig will, braucht nicht nur fleißige Bienen, sondern noch viel kleinere Insekten. Unterwegs mit dem Läusebeobachter.

Alfdorf - Der Nachmittag dieses Frühlingssamstags gleitet in den gemütlichen Teil über. Aus den Supermärkten tröpfeln die letzten Kunden, die Autos auf den Straßen streben heimwärts, in den Cafés gesellen sich zu den Cappuccini die ersten Cocktails. Die drei Männer, die in einem gelben Kleintransporter durch den Stuttgarter Süden fahren, haben dafür keinen Blick, nur rasch weiter. Vor einer Werkstatt in der Böblinger Straße hält der Wagen an, die Männer klettern heraus und eilen in das Gebäude. Sie tragen drei große Halogenscheinwerfer in die Teeküche und ein schweres Binokular. Eine Stirnlampe liegt schon auf dem eilends gewischten Tisch bereit, eine Lupe, die man sich ins Auge klemmen kann, ebenfalls. Fehlen nur noch die Zweige, die die Männer am Vormittag dieses Frühlingssamstages gesammelt und im gelben Kleintransporter nach Stuttgart gekarrt haben. Dann kann die spannende Operation beginnen.

Die Zweige hingen bis vor ein paar Stunden noch an Fichten und Tannen im Schwäbischen Wald. Die Männer haben sie abgeschnitten, weil sie wissen wollen, was auf den Zweigen los ist. Die Männer heißen Thomas Lorenz, 48, Engelbert Jaumann, 62, und Robert Bernlöhr, 52, und sind Läusebeobachter. Das heißt: eigentlich sind sie Hobbyimker. Aber weil in der Natur alles mit allem zusammenhängt, interessieren sich die drei Hobbyimker nicht nur für Bienen, sondern auch für Läuse. Viele Läuse im Wald bedeuten – wenn alles gut läuft – viel dunklen würzigen Waldhonig im Sommer.

Elf Tage zuvor hat Thomas Lorenz eine Rundmail an seine Imkerfreunde geschrieben: „Ich geh’ in den Wald zum Ästeschneiden“, kündigte er an. „Wer kommt mit?“ Elf Tage später um 9 Uhr morgens fahren bei der Rundsporthalle in Waiblingen Robert Bernlöhr und Engelbert Jaumann vor. Die Ausrüstung des Beobachtertrupps besteht aus kleinen und riesigen Scheren, um Äste in jedweder Höhe zu schneiden; einer Rolle Paketklebeband, um die Zweige unverlierbar zu bündeln; einem schwarzen Stift, um die Fundstücke sorgfältig zu beschriften; außerdem aus einer Liste der Stationen, die die Beobachter an diesem Tag anfahren: Lenglinger Täle oben, Lenglinger Täle unten, Haselbachtal vor der Brücke, Haselbach oben, Alfdorf-Kreuzung, Wahlenheim und zum Schluss die S-Kurve in Wahlenheim. Sicherheitshalber hat Thomas Lorenz auch Fotos von Läusen eingepackt, stark vergrößert und in Plastikfolie eingeschweißt, damit auch wirklich jeder weiß, wofür er die Augen aufmachen muss. An diesem Beobachtungstag sind das die Fichtenquirlschildlaus und die Grüne Tannenhoniglaus.

Eine Spur der Fichtenquirlschildlaus

Eine gesunde Laus liebt Siebröhrensaft. Also sticht sie ihren Saugrüssel in die Siebröhren der Pflanze und lässt den zuckerhaltigen Saft in ihren Magen strömen. Was sie nicht verarbeiten kann, scheidet sie in Gestalt klarer Tropfen aus. Laien sprechen fälschlicherweise von Läusekot, Kenner wissen: das ist Honigtau. Aus dem süßen Ausschuss machen Bienen Honig. Noch machen die Läuse im Schwäbischen Wald und anderswo zwar gar nichts, aber wenn die Beobachter an diesem Tag auf den Fichten- und Tannenzweigen Larven oder Eier finden, bekommen sie eine Ahnung davon, ob oder wo es sich lohnen könnte, im Sommer Waldhonig produzierende Bienenvölker abzustellen.

Ankunft im Lenglinger Täle oben: die Beobachter verlassen ihren gelben Kleintransporter und streifen sich rasch eine wärmende Jacke über. Auf dem moosbedeckten Boden liegen Reste von Raureif, bis die Sonne durch die Bäume dringt, dauert es noch. Thomas Lorenz klemmt sich das Halfter für seine Schere an die Hose. Robert Bernlöhr greift sich seinen Teleskopschneider, und Engelbert Jaumann schnappt seinen Astknipser. Die drei Männer verschwinden zwischen den Bäumen. Als sie zurückkommen, klemmen in ihren Händen Zotteln von Fichten und Tannen, und Thomas Lorenz strahlt. Er hat schon eine Spur der Fichtenquirlschildlaus entdeckt. Ein Unwissender sieht, wenn überhaupt, einen kleinen braunen Bobbel zwischen den Nadeln. Doch der erfahrene Läusebeobachter erkennt darin eine Brutblase. Thomas Lorenz weiß jetzt: im vorigen Jahr gab es an dieser Stelle Fichtenquirlschildläuse, und die Chancen für eine neue Generation sind gut, denn aus einer Brutblase können viele Baby-Fichtenquirlschildläuse krabbeln, Siebröhren anzapfen und Honigtau produzieren. „Das ist der Hammer!“, frohlockt Thomas Lorenz. So ein Fund gleich an der ersten Station, nichts wie weiter. „Dieser Wald ist ein Geheimtipp“, verrät Thomas Lorenz auf der holprigen Fahrt. Nur 500 Meter breit und nicht mal einen Kilometer lang, doch das sagt gar nichts. „Es kommt nicht auf die Größe an“, erklärt Thomas Lorenz. Ein kleiner Wald bedeute nicht automatisch eine kleine Honigernte.

Ankunft im Lenglinger Täle unten, raus aus dem Auto, ran an die Scheren. Schnipp, schnapp, schnipp, schnapp, schnipp, schnapp! Alle Zweige fest zusammenkleben, sauber beschriften, weiter.

Eine Brutblase im Lenglinger Täle

Der ehrenamtliche Läusebeobachter Thomas Lorenz ist hauptberuflich Mechanikermeister. Er hat eine Frau und zwei Kinder. Vor 14 Jahren hat er das Imkern begonnen – mit zwei Völkern und null Ahnung. Er konnte nicht mal eine Tanne von einer Fichte unterscheiden. Heute hat er zwölf Völker und sehr viel Ahnung von Bienen, Bäumen und Läusen, dafür kaum noch Zeit für Frau und Kinder. Mit einer einmaligen Erkundung des Schwäbischen Walds im Jahr lässt sich keine Prognose für das treffen, was der Fachmann Waldtracht nennt.

Nur weil die drei Läusebeobachter an diesem Tag eine Brutblase im Lenglinger Täle oben gefunden haben, heißt das nicht, dass der Wald dort in diesem Jahr wirklich das tut, was der Fachmann honigen nennt. Kann ja sein, dass die Läuse nicht viel zum Saugen finden oder dass massenhaft Regen den Honigtau von den Nadeln spült. In einigen Wochen rücken die Läusebeobachter wieder aus. Dann halten sie nicht nur Ausschau nach größer werdenden Grünen Tannenhonigläusen und wachsenden Fichentenquirlschildläusen, sondern auch nach der Rotbraun Bepuderten Fichtenrindenlaus, die sich nicht früher zeigt. Bei einer weiteren Begehung im Mai gilt die Aufmerksamkeit dann der Ausbreitung dieser Rotbraun Bepuderten Fichtenrindenlaus: Wachsen die Kolonien? Fliegen die Tierchen davon? Oder sind sie zu Fuß unterwegs? Und dann, nach einer letzten Gesamtschau im Juni, muss Thomas Lorenz seine Bienen endlich mal in den Wald bringen. Sonst bringt ihm ja sein ganzes Wissen um die Läuseplätze nichts.

Wobei Imker wie Thomas Lorenz ihren Bienen selbstverständlich nicht nur Honigtau von Fichten und Kiefern vorsetzen, sondern auch Nektar aus Obstblüten, Linden, Löwenzahn oder Raps. Imker wie Thomas Lorenz wandern mit ihren Bienen deshalb dem Futter hinterher. In diesem Fall von der Basisstation im Remstal auf die raue Alb, wo alles etwas später blüht. Und von dort dann in den Wald, wo es honigt, wenn es sonst nirgends mehr was gibt. „Die Bienen sind für mich ein Vollhobby“, sagt Thomas Lorenz und erklärt: „Vollhobby heißt, man hat keine Zeit mehr für ein anderes Hobby.“

In ausgewachsenem Zustand zehn Millimeter groß

Der Kleintransporter hält in der Wahlenheimer S-Kurve. Seit fast drei Stunden sind die drei Läusebeobachter jetzt unterwegs. Viel Platz gibt es im Kofferraum nicht mehr. Ein Halt noch, dann ist es gut für heute. Es wird ein krönender Abschluss. Thomas Lorenz entdeckt Ameisen. Ein vielversprechendes Zeichen! Wo Ameisen sind, sind Läuse nicht weit. Thomas Lorenz verfolgt die Spur und findet: zwei Kolonien der Schwarzbraunen Tannenrindenlaus. „Das ist unglaublich“, jubelt er. „Das ist der Wahnsinn! Das ist der Burner!“ Die Schwarzbraune Tannenrindenlaus verspricht beste Ernte.

In ausgewachsenem Zustand bringt sie es auf eine Größe von zehn Millimetern. Man kann sich vorstellen, was das für ihre Honigtautropfen bedeutet: Die sind ebenfalls riesig! Der Schwarzbraunen Tannenrindenlaus hat Thomas Lorenz seine prima Waldhonigausbeute im vergangenen Jahr zu verdanken. 40 Kilo hat ihm jedes seiner Völker gebracht, die er extra ins Kinzigtal transportiert hatte. Auf die Läusebeobachter im Schwarzwald war Verlass. Insgesamt 14 Läusebeobachtungsgruppen gibt es in Baden-Württemberg. Sie ziehen im Schwäbischen und im Schwarzwald ihre Runden, im Allgäu, auf der Alb und rund um den Bodensee. Ihre Beobachtungen teilen sie miteinander. Ein Vollhobbyimker kann sich nicht auf den Zufall verlassen. Da braucht es eine Trachtprognose mit System. Entwickelt hat dieses System die an der Uni Hohenheim beheimatete Landesanstalt für Bienenkunde.

In der Werkstatt im Stuttgarter Süden haben sich Thomas Lorenz, Robert Bernlöhr und Engelbert Jaumann ihrer Jacken entledigt. Unter den Halogenscheinwerfern ist es heiß. Auf dem Tisch liegen Zweige. Alle Funde müssen inspiziert werden. Womöglich gibt es Läusespuren, die das bloße Auge im Wald nicht erspäht hat. „Man versucht zu sehen, ob man was sieht“, erklärt Thomas Lorenz und verteilt das Untersuchungsmaterial. Engelbert Jaumanns Blick bleibt zwischen Fichtennadeln hängen. „Könnte das was sein?“, fragt er. „Drück mal drauf“, empfiehlt der Experte Lorenz. „Wenn’s nicht kaputt geht, ist es eine Knospe.“ Es ist eine Knospe. „Könnte das was sein?“, fragt Engelbert Jaumann und präsentiert ein winziges weißliches Etwas. Es ist nichts. Thomas Lorenz untersucht die Brutblase aus dem Lenglinger Täle. Er entdeckt ein winziges bräunliches Etwas. „Das ist verdächtig“, ruft er und steckt den Fund unter das Binokular. Was er sieht, freut ihn noch mehr: eine Fichtenquirlschildlaus. Einen halben Millimeter klein, mit zwei Augen und einem Grinsen. Das sieht aber nur Thomas Lorenz.

Um sechs Uhr ist Feierabend. Auf dem Auswertungsbogen vermerkt Thomas Lorenz den Fund von fünf Brutblasen, einer Fichtenquirlschildlaus und zwei Kolonien der Schwarzbraunen Tannenrindenlaus. „Das war ein sehr erfolgreicher Tag“, resümiert er. Der Aufwand hat sich also gelohnt? Der Läusebeobachter lacht. Lohnen, antwortet er, tue sich dieser Aufwand nicht, aber Spaß machen.