Jingle Bells kann Petros schon spielen – der 19-jährige Eritreer ist seit Ostern im Kirchenasyl in einer Gemeinde in Frankfurt am Main. Foto: Siefert

244 Menschen befinden sich bundesweit im Kirchenasyl. Viele suchen in Gotteshäusern Schutz vor der Abschiebung in ein EU-Land. Auch Petros Habte müsste eigentlich zurück nach Ungarn.

Frankfurt - Mit Bedacht drückt Petros eine weiße Taste nach der anderen. Die rechte Hand weiß genau, was die linke tut und umgekehrt. Der 19-Jährige sitzt an dem alten reich verzierten Klavier in der Kirche und spielt „Jingle Bells“ – ein Weihnachtslied. Mitten im Sommer. „Das ist das Einzige, was ich schon richtig gut kann“, sagt Petros. Auf Deutsch. Auch das kann er schon richtig gut. Nach drei Monaten und einer Woche, die er hier wohnt, in der Gemeinde am Bügel im Frankfurter Stadtteil Nieder-Eschbach.

Pfarrer Olaf Lewerenz hat ihn aufgenommen. Seit Ostern bietet er ihm Kirchenasyl. Ohne den Schutz der Gemeinde hätte Petros die Abschiebung nach Ungarn gedroht. Doch aus einer Kirche holt die Polizei nur selten jemanden raus – auch wenn sie das könnte. Die Politik weiß von den Fällen und duldet sie meist stillschweigend.

Momentan befinden sich in 135 Gemeinden in Deutschland mindestens 244 Menschen im Kirchenasyl, so die aktuellen Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BAG). So viele Fälle von Kirchenasyl wie heute hat es seit zehn Jahren nicht gegeben. Anfang 2014 waren 62 Personen in 34 Asylen. Die meisten Kirchenasyle gibt es in Bayern und Nordrhein-Westfalen. In Baden-Württemberg gibt es derzeit laut Innenministerium keinen Fall.

112 der aktuellen Asyle sind sogenannte Dublin-Fälle. Die Dubliner Verordnung von 1997 besagt, dass ein Flüchtling, der aus einem Drittstaat in die EU kommt, in dem Land Asyl beantragen muss, in dem er die Union das erste Mal betritt. „In vielen Dublin-Fällen ist Kirchenasyl eine Form von Selbstmordprophylaxe“, sagt Fanny Dethloff, Vorsitzende der BAG. Ein Flüchtling habe einmal zu ihr gesagt: Ihr schaut den ganzen Tag Fußball, seht aber nicht, wie wir wie Fußbälle durch Europa gekickt werden. Sie kennt viele, die sagen: Bevor ich nach Ungarn zurück muss, bringe ich mich um. Die Dublin-Regelung sei eigentlich eine gute Idee, findet Pfarrer Lewerenz. „Aber sie setzt voraus, dass überall die gleichen Standards herrschen, was eben nicht der Fall ist.“

Angst, dass er nach Ungarn zurück muss, hat auch Petros. Er hat dort Schlimmes erlebt, wurde auf offener Straße brutal zusammengeschlagen. Die Polizei reagierte nicht. Auch er ist statistisch gesehen ein Dublin-Fall.

Petros kommt aus Eritrea. Sein Vater war Offizier, hat sich für eine Verfassung eingesetzt. Was in einer Vorzeige-Diktatur wie Eritrea nicht gern gesehen wird. Er wurde festgenommen und umgebracht. Petros war damals fünf Jahre alt. Seine Mutter floh mit seinen Geschwistern – Petros war krank und blieb bei der Großmutter. „Ich habe immer gefragt: Wo ist mein Vater?“, sagt er. Niemand wollte ihm antworten. Seine Oma hat es ihm letztendlich erzählt.

Als Petros 17 Jahre alt wird, soll er zum Militärdienst eingezogen werden – eine unkalkulierbare Sache in Eritrea. „Man weiß dort nicht, wie lange man zum Dienst muss und wo man letztendlich landet“, sagt Lewerenz. Petros flieht.

Sein Weg führt ihn zunächst in den Sudan, „dort hat mir jemand ein Visum für Ungarn besorgt“. Von Verwandten hat er das Geld für ein Flugticket. Er fliegt in die Niederlande. Dort angekommen, wird er direkt in ein weiteres Flugzeug verfrachtet, diesmal nach Ungarn – dafür hat er schließlich das Visum.

„Ich hatte aber Pech wegen meiner Hautfarbe“, sagt er, als wäre seine dunkle Haut tatsächlich schuld an dem, was ihm in Ungarn widerfahren ist. Nach acht Monaten muss er das dortige Flüchtlingslager verlassen. Ohne Geld, ohne einen Platz, wo er hinkann. Er lebt auf der Straße – was in Ungarn strafbar ist. Als ihn eine Gruppe Rechtsradikaler auf offener Straße schwer verprügelt, erstattet Petros Anzeige – die Polizei kümmert das nicht. Petros beschließt erneut, zu fliehen. Und kommt nach Deutschland.

Nach mehreren Stationen landet er schließlich in Frankfurt, wohnt dort zwei Wochen in einem berüchtigten Containerbau für Obdachlose im Osten der Stadt. „Ein bisschen Angst hatte ich da schon“, sagt Petros. Ein hilfsbereiter Mensch greift ihn dort auf und bringt ihn nach Frankfurt-Höchst zum Wohnungsamt für Flüchtlinge. Doch Petros darf nicht in Deutschland bleiben. Laut EU-Recht ist Ungarn für ihn zuständig. Auch wenn er dort nicht nur einen Zahn und den Glauben in die Polizei, sondern auch seine Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben verloren hat.

In Höchst erfährt Petros von Stephan Hocks. Der Anwalt ist auf Dublin-Fälle wie seinen spezialisiert. Nach Griechenland werde heute niemand mehr abgeschoben, sagt Hocks, es gebe auch Gerichtsentscheide, die eine Rückführung nach Italien, Malta oder Ungarn ausschließen. Doch die Asyleilverfahren liegen im Ermessen des Richters. „Viele Richter hätten in Petros Fall anders entschieden“, sagt Hocks. Seiner aber nicht. Petros soll das Land verlassen. Er hört vom Kirchenasyl, wendet sich an die Diakonie, die in einer Rundmail die Gemeinden fragt, welche den jungen Eritreer aufnehmen kann. Auch Olaf Lewerenz erhält diese Mail.

„Ich wollte Petros erst einmal kennenlernen“, sagt Lewerenz. Die beiden sind sich schnell sympathisch. Einen Tag später sitzen sie in Hocks Anwaltskanzlei – eigentlich um erst einmal alles Formelle zu besprechen. „Gerade als wir da saßen, kam ein Brief“, erinnert sich Lewerenz. Einen Tag später hätte die Abschiebung akut werden können. Denn Petros war nach Behördenmeinung untergetaucht – aus Angst war er nicht mehr in das Heim in Höchst zurückgekehrt. „Da habe ich erst mal geschluckt“, sagt Lewerenz. Doch die Zustimmung vom Kirchenvorstand bekam er prompt – und einstimmig. „Ich habe Faxe an alle betroffenen Behörden geschickt, und seitdem befindet sich Petros bei uns im Kirchenasyl.“ Auch das hessische Innenministerium hat Lewerenz informiert – ohne Reaktion. „Ich hätte gerne ein Gespräch gehabt“, sagt Lewerenz.

Ihm war von Anfang an wichtig, dass Petros Deutsch lernt. Möglichst viel, damit das Kirchenasyl keine verlorene Zeit für den jungen Mann ist. Seit zehn Wochen ist Petros Teilnehmer des Kurses „Mama lernt Deutsch“, der in der Gemeinde für Ausländer angeboten wird. Vier Tage die Woche je vier Stunden. Doch jetzt sind Ferien. „Aber Heide kommt jetzt jeden Freitag“, sagt Petros. Die Frau aus der Gemeinde übt mit ihm, Briefe zu schreiben – „das ist wichtig für spätere Bewerbungen“, sagt Petros. An seine Familie schreibt er keine Briefe, er hat keinen Kontakt mehr zu Verwandten. Klavierunterricht hat Petros seit einem Monat bei Frau Kim, der Kirchenmusikerin der Gemeinde. „Jingle Bells“ ist in dem systematisch aufgebauten Übungsheft gerade an der Reihe.

Petros scheint sich mit seiner Situation angefreundet zu haben. Anfangs war es schwer für ihn, das Gemeindehaus nicht zu verlassen. Zum Basketballspielen ist er manchmal ausgebüxt in das benachbarte Jugendzentrum. „Wir mussten Petros erst erklären, dass das nicht geht“, so Lewerenz. Der Pfarrer hat kurzerhand einen Basketballkorb auf die Terrasse des Gemeindehauses gestellt. Oft kommen Jungs aus der Nachbarschaft und werfen mit Petros ein paar Körbe. Auch gespendet wird für ihn. Eine andere Frankfurter Gemeinde hat vor kurzem bei einem Fest Geld für Petros gesammelt.

Noch bis zum 28. August ist die Gemeinde am Bügel das Zuhause des jungen Eritreers. Dann sind die sechs Monate vorbei, in denen er in das Erstaufnahmeland hätte abgeschoben werden können. Nach dieser Frist ist Deutschland verpflichtet, Petros’ Asylantrag zu bearbeiten. Die Chancen, dass dieser bewilligt wird, stehen gut: Etwa 95 Prozent der Anträge von Eritreern werden positiv beschieden. In der Flüchtlingspolitik wüssten es die Kirchen nicht besser als der Staat, sagt Fanny Dethloff von der Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche. „Sie wollen nur Zeit geben, um einen zweiten Blick auf manche Fälle werfen zu können.“