Foto: Leif Piechowski

Kirche hat in der Stadtgesellschaft einen schweren Stand. Knapp die Hälfte aller Stuttgarter hält sich für „gar nicht religiös“ oder „weniger religiös“. Es ist die Folge eines Wertewandels.

Stuttgart - „Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen, eine wenn’s ihm gut geht. Und eine wenn’s ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion“, schrieb Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890 – 1935). Was in seiner Zeit stimmte, hat offenbar seine Gültigkeit verloren. Die christlichen Kirchen verlieren seit Jahrzehnten nicht nur Mitglieder, sondern auch Akzeptanz. Aus einer christlichen Mehrheitsgesellschaft ist eine Minderheit geworden. Dieser Trend gilt freilich auch für Stuttgart, wie eine neue Untersuchung der Statistiker Joachim Eicken und Birgit Lott zeigt. „Die Daten der Einwohnerstatistik und zum kirchlichen Leben lassen keine Trendumkehr erwarten“, so die Prognose der Autoren: „Mittelfristig muss daher mit einer weiteren Entkirchlichung gerechnet werden.“

Es sind die Folgen eines Wertewandels. Der moderne Mensch und die Institution Kirche scheint nicht mehr zusammenzupassen. Verbindliche Zeiten, feste Rituale, strenge Regeln einer religiösen Gemeinschaft stehen oft im Kontrast zu einem individuellen Lebensentwurf.

„Dieser Prozess hat bereits vor 50 Jahren begonnen“, erklärt Sozialwissenschaftler Oscar W. Gabriel, „hier stehen Prosperität und Selbstverwirklichung mit dem Lebensstil von Pflicht und Akzeptanz im Widerspruch.“ Maxime sei, „das Leben in vollen Zügen zu genießen und aufzuwerten.“ Das gelte für die Freizeit und das Berufsleben. Eine Folge ist der Schrumpfungsprozess der beiden Amtskirchen.

Religiosität nimmt im Alter zu

Aber die Analyse der Stuttgarter Statistiker geht noch weiter. Sie reicherten die objektiven Daten zur Entwicklung der Kirchenzugehörigkeit in Stuttgart mit der subjektiven Einstellung zu Religion und Glaube der Einwohner an. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Hier einige der Erkenntnisse des Stuttgarter Religionsbarometers:

Fakt 1: Knapp die Hälfte aller Menschen in der Stadt hält sich für „gar nicht religiös“ oder „weniger religiös“.

Fakt 2: Selbst in beiden christlichen Amtskirchen ist der Anteil derjenigen, die sich für „nicht religiös“ halten höher, als der Anteil der „sehr religiösen“.

Fakt 3: Religiosität nimmt im Alter zu.

Fakt 4: Einwohner ohne deutschen Pass sind religiöser als deutsche Staatsangehörige.

Fakt 5: Der Glaube an Gott oder etwas Gottähnliches ist bei den meisten Stuttgartern (61 Prozent) stärker ausgeprägt als das, was sie unter Religiosität verstehen. Zum Beispiel: Beten oder in die Kirche gehen.

Fakt 6: Andere christliche Gemeinschaften und nichtchristliche Religionsgemeinschaften (zum Beispiel Islam und Judentum) erreichen in der Frage nach dem Glauben an Gott bessere Werte als die Amtskirchen.

Fakt 7: Bei Katholiken ist der Glaube stärker ausgeprägt als bei Protestanten.

Fakt 8: 53 Prozent der Befragten gehen nur selten in die Kirche, 19 Prozent regelmäßig.

„Diese Unterschicht hat überhaupt keine Werte mehr“

Acht Fakten, die Professor Gabriel nicht überraschen. Auf die Frage, ob Kirche noch eine Zukunft hat, sagt er: „Ich glaube nicht.“ Doch wer glaubt, Gabriel holt nun zur allgemeinen Kirchenkritik aus, irrt. Seine Begründung lautet: „Die Kirchen sind Opfer ihres eigenen Erfolgs.“ Christliche Werte wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit oder Nächstenliebe seien mit sozialistischen und liberalen Wertvorstellungen verschmolzen. Kirche werde nicht mehr als Urheber dieser Werte erkannt. „Zudem steht der Vertreter der Mittelschicht der Institution Kirche mit all ihren Strukturen und Hierarchien indifferent oder ablehnend gegenüber“, sagt Gabriel.

Noch düsterer fällt dagegen seine Analyse für eine Gruppe aus, die er auf 15 Prozent der Gesellschaft taxiert: „Diese Unterschicht hat überhaupt keine Werte mehr. Diese große Gruppe hat sich komplett aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen.“

Starker Tobak, der hochrangige Kirchenvertreter nicht kalt lassen dürfte. Mit Ausnahme der Muslime und der Juden. Ali Ipek, der Landesbeauftragte der Ditip (Dachverband der muslimischen Ortsgemeinden) kennt diese Sorgen überhaupt nicht: „Das Freitagsgebet bei uns in Feuerbach ist eher überfüllt.“ Auch Landesrabbiner Nethanel Wurmser blickt gelassen auf die Ergebnisse der Religiositäts-Studie: „Wir in der jüdischen Gemeinde kennen diese Form der Religionsflucht nicht.“ Die Ursachen dafür kommen aus Osteuropa. „Unsere Gemeinde in Stuttgart ist durch die starke Zuwanderung gewachsen. In ihrer Heimat war für diese Menschen Religion ein Unding. Deshalb sind sie nun froh über die freie Religionsausübung“, sagt Wurmser. Gleichzeitig ist sich der Landesrabbiner bewusst, dass sich auch die jüdische Gemeinde in diesem gesellschaftlichen Kontext befinde. Und der sei alles andere als religionsfördernd.

Einen Wandel plant die Katholische Kirche in Stuttgart

So düster die Perspektiven sein mögen, sie entmutigen den evangelischen Diakonie-Dekan Klaus Käpplinger nicht. „Es hilft doch nichts, den Kopf in den Sand zu stecken oder in eine Depression zu verfallen“, sagt er, „wir werden weiter unsere Angebote an diese Stadtgesellschaft machen. Wir bleiben präsent.“ Käpplinger meint vor allem die diakonischen Angebote: „Wir laden Menschen ein und unterstützen sie auch in prekären Lebenssituationen.“ Zudem kann der Dekan aus Zuffenhausen auch einen Funken Gutes in dieser Entwicklung entdecken: „Früher kamen Menschen in der Tradition zum Glauben. Heute sind sie aus freiem Herzen dabei und dadurch oft engagierter.“

Einen Wandel plant indes die Katholische Kirche in Stuttgart. „Die Stadtkirche ist etwas Besonderes“, sagt Stadtdekan Christian Hermes, „wir stecken in einer schwierigen Situation, in der wir Lösungen finden müssen. Wir können nicht so weiterwurschteln.“ Hermes hat erkannt, „dass sich die moderne Stadtkirche auf die Lebenswirklichkeit der Menschen einlassen muss.“ Dazu hat er ein 60-seitiges Pastoralkonzept entwickelt, in dem er „für Offenheit für andere und Fremdes ohne Berührungsängste“ wirbt.