Gejagt, geliebt, umstritten: Kaum ein Tier polarisiert so sehr wie der Wolf, der auch in China beinahe ausgerottet worden wäre Foto: Wild Bunch/Centra

Jean-Jacques Annaud hat „Der letzte Wolf“ verfilmt nach dem Megabestseller „Der Zorn der Wölfe“ von Lü Jiamin, chinesischer Dissident und Professor für Wirtschaftspolitik. Der Wolf fungiert hier als Bestrafer menschlicher Hybris: Unterwirft man die Natur, schlägt sie zurück.

Stuttgart - Aus der Ferne ein Jaulen. Pferdehufe hämmern im Galopp auf dem gefrorenen See, an mancher Stelle birst das Eis. Wölfe hetzen durch die teils berittene Herde, blecken die Zähne, ihre leuchtenden Augen voller Kraft und Konzentration. Der Schneesturm wütet gnadenlos. Hier herrscht Chaos. Die Jäger wissen es zu nutzen.

Diese imposante, dank 3-D-Brille äußerst packende Szene findet sich in Jean-Jacques Annauds neuester Regiearbeit: Mit „Der letzte Wolf“ verfilmt er den Megabestseller „Der Zorn der Wölfe“ des Dissidenten und Professors für Wirtschaftspolitik, Lü Jiamin. Der unter Pseudonym veröffentliche Roman ist das erfolgreichste Werk auf chinesischen Literaturmärkten seit der Mao-Bibel „Das kleine Rote Buch“.

Der menschliche Protagonist und Student Chen Zhen (Feng Shaofeng) wird 1967 in die Innere Mongolei geschickt, um dortige Schäfer zu alphabetisieren. Doch dieses Ziel verliert er bald aus den Augen: Die Wildnis, besonders der ebenso gravitätische wie tödliche Wolf, fasziniert ihn. Als Peking das Ausradieren der Tiere als Schutzmaßnahme anordnet, rettet Chen einen Welpen und versteckt ihn im Dorf. Weder dem dezimierten, doch überlebenden Wolfsrudel noch den besorgten Bewohnern gefällt das. Bekanntlich ist nicht nur der Wolf dem Menschen ein Wolf.

Der Wolf fungiert als Bestrafer menschlicher Hybris

Kameramann Jean Marie Dreujou fängt die mongolischen Weiten eindrucksvoll ein. Die Optik des Streifens besticht. Großartig auch, wenn der Zuschauer aus der Wolfsperspektive in eine Schafherde fliegt. Der 3-D-Effekt lohnt sich. Komplettiert wird das Vergnügen vom perfekten Score des im Juni verstorbenen James Horner.

Doch nun zum Hauptargument: die Wölfe! Annaud setzt ihnen mit diesem Streifen ein Denkmal. Mal blicken sie herrisch von Hügeln herab, mal zögernd aus Bauen heraus. Dies spiegelt die dialektische Betrachtung des Themas: einerseits gefährliches Raubtier, andererseits eine vom Menschen verdrängte Art. Während Chen liebevoll mit seinem domestizierten Zögling zurechtkommt, ermordet die chinesische Exekutive andere Welpen auf brutale Weise: Sie packen die Wehrlosen am Schwanz, schleudern sie gen Himmel und lassen ihre kleinen Körper am harten, felsigen Boden zerschellen. Der ausgewachsene, mächtige Wolf fungiert hingegen als Bestrafer menschlicher Hybris: Unterwirft man die Natur, schlägt sie zurück.

Annaud bezeichnet die Dreharbeiten mit den von Tiertrainer Andrew Simpson aufgezogenen Tieren als „liebenswerten Albtraum“. Dabei hatte er einen guten Draht zu Leitwolf Cloudy, der die Hauptrolle ergatterte. Selbiger wirkte wie besessen von Annaud und leckte ihm regelmäßig das Gesicht sauber. Bilanz der besonderen Verbundenheit: einige zerrissene Anoraks und kleine Bisswunden.

Wo noch ein natürliches Gleichgewicht herrscht, scheint Koexistenz möglich

Derartiger Einklang zwischen Zwei- und Vierbeinern ist leider alles andere als selbstverständlich. Vielerorts hat man Wölfe lange bekämpft, beinahe bis zur Ausrottung. Dort, wo noch ein natürliches Gleichgewicht herrscht, scheint eine Koexistenz jedoch möglich: „Wenn man dem Wolf die Gazellen nicht nimmt, lässt er unsere Schafe in Ruhe“, heißt es im Film.

„Der letzte Wolf“ mahnt letztendlich auch, eines nie zu vergessen: Tierarten sind meist nicht vom Aussterben bedroht – sondern vom Menschen.