Was ist echt, was virtuell? Ryan Gosling begibt sich auf der Suche nach dem Kind einer Replikantin. Foto: Verleih

Der frankokanadische Regisseur Denis Villeneuve schreibt in „Blade Runner 2049“ Ridley Scotts Klassiker fort. Sein Film, der jetzt ins Kino kommt, entwirft vor dem Hintergrund heutiger technische Möglichkeiten die Katastrophe von morgen.

Stuttgart - Im Jahr 2049 ist Kalifornien ein Ödland, in dem ein einsamer Farmer neben seinem Haus Würmer züchtet, Proteinnahrung. Gemäß dem Auftrag der Sicherheitsbehörde wird der Mann von Officer KD6-3.7 getötet, denn es handelt sich um einen Replikanten der Baureihe Nexus-8. Die war früher gängig, ist aber inzwischen verboten, weil ihre als Sklaven gehaltenen Vertreter zu aufsässig wurden. Längst werden andere, bioidentische und auch fügsamere Replikanten produziert in „Blade Runner 2049“, dem neuen Film des großen frankokanadischen Kinoerzählers Denis Villeneuve, der – wie der Titel verrät – Ridley Scotts „Blade Runner“ aus dem Jahr 1982 fortschreibt.

Los Angeles ist in dem Film ein Mega-Slum

Scotts Science-Fiction-Klassiker auf der Grundlage von Philip K. Dicks Buch „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ war im Los Angeles des Jahres 2019 angesiedelt und vermittelte das verstörende Bild einer Zukunft, die quasi unsere heutige Gegenwart ist. L. A. ist bei Scott in ewige Dunkelheit gehüllt, vermüllt und übervölkert; ein Mega-Slum. Ein besseres Leben auf fernen Planeten soll von Replikanten erschlossen werden, Robotern, die äußerlich nicht vom Menschen zu unterscheiden sind und die Erde bei Todesstrafe nicht betreten dürfen. Als sich einige dem Verbot widersetzen, wird Harrison Ford als Rick Deckard ausgeschickt, um sie zu jagen.

Dreißig Jahre später ist dieser Blade Runner, der in die Kinogeschichte einging, spurlos verschwunden, doch der Beruf wird weiter ausgeübt. Die Welt hat sich nicht sonderlich verändert. Wie sein Vorgänger Deckard ist auch Officer KD6-3.7 ein Blade Runner, ein Replikanten-Jäger, und selbst Androide. Jedenfalls nimmt er das an, doch dann wird auf dem Grundstück des liquidierten Farmers eine Kiste ausgegraben, die die Knochen einer Frau enthält. Die Überreste sind aus zweierlei Gründen interessant: Sie weisen eine Seriennummer auf, verraten aber auch, dass diese tote Replikantin vor dreißig Jahren von einem Baby entbunden wurde. Androiden, die sich aus eigener Kraft fortpflanzen, darf es jedoch nicht geben, weil es deren Status als künstlich erschaffene Sklaven in Frage stellen würde, und so wird KD6-3.7 befohlen, das Kind zu finden.

Menschengemachte Naturdesaster

Doch zuvor schickt ihn der Regisseur Denis Villeneuve („Arrival“) auf eine Reise, die zweierlei zusammendenkt und großartige Bilder für beides findet: menschengemachte Naturdesaster – Vermüllung, Atomverstrahlung, Klimawandel – und das Nachdenken, wie der Begriff des Menschlichen künftig zu definieren sei.

Schon Ridley Scotts Film warf essenzielle Fragen auf, die immer wieder angerissen wurden im Science-Fiction-Kino der Folgejahre: Stellt künstliche Intelligenz eine Gefahr für die Menschen dar? Wie verortet sie sich überhaupt im Verhältnis zum Humanen? Kennt sie Gefühle? Unterstützt von Scott, der als Produzent von „Blade Runner 2049“ fungierte und an der Story mitgewirkt hat, stellt Villeneuve diese Fragen ebenfalls, aber er stellt sie anders aus unserer Gegenwart heraus. Und es ist nur konsequent, dass er eine heutige, technische Möglichkeit zur existenziellen Katastrophe von morgen umwertet: die totale, halluzinierende Virtualität.

Es gibt keine echten Tiere mehr

Selbstverständlich beherrschen Algorhythmen das Leben von Officer KD6-3.7: Seine Lebensgefährtin etwa ist ein Hologramm, das entsprechend den aktuellen Erfordernissen und der Situation seine Erscheinung wandelt. Das Essen serviert es im Retro-Stil einer tüchtigen Hausfrau aus den 1950er-Jahren; die Aussicht auf einen Abend im Vergnügungsdistrikt wandelt es zum Vamp im Glitzerkleid. Ryan Gosling nimmt das als Officer KD6-3.7 mit dem ihm eigenen leeren, aber auch irgendwie freundlichen Blick zur Kenntnis, er findet aber im Laufe dieses fast dreistündigen Films mit wachsender Selbsterkenntnis zu vitalerem Ausdruck.

Seine Suche nach dem Kind der Replikantin führt ihn bald aus dem düsteren Los Angeles, in dem es wie in Ridley Scotts Film unaufhörlich regnet, erst nach San Diego, eine endlose Müllhalde, in der Waisenkinder Schrott sortieren müssen, zu einer geheimnisvollen „Erinnerungskonstrukteurin“ und schließlich nach Las Vegas, nun eine Geisterstadt, in der ein alter Mann mit einem Hund lebt, der kaum echt sein kann, da es echte Tiere nicht mehr gibt.

Dunkle Zukunftsvision

Um die Begriffe Echtheit und Wahres, aber auch die Natur der Seele kreist der Film insgesamt. Das Drehbuch schrieben Hampton Fancher, der bereits bei Ridley Scotts Klassiker mitwirkte, und Michael Green. „Blade Runner 2049“ brilliert mit einem visuellen Reichtum, der seinesgleichen sucht im Kino der Gegenwart. Villeneuve zelebriert die Bilder fast meditativ, er setzt Actionszenen sehr bewusst, fast sparsam ein.

Die Besetzung ist international und hochkarätig: Villeneuve stellt mit Ryan Gosling einen der populärsten Hollywood-Stars ins Zentrum und holt zudem den Hauptdarsteller des Originals Harrison Ford zurück. Robin Wright spielt ihre Androgynität aus als Chefin von Officer K, und die großartige palästinensische Schauspielerin Hiam Abbas verkörpert in ihrem wohl ersten Blockbuster-Auftritt die Anführerin einer Untergrundbewegung. Fans des 1982er Klassikers werden viele optische Bezüge zu Ridley Scotts Kultfilm finden, jener Synthese aus Dystopie und Film noir, in der stilistisch der Cyberpunk herrschte.

Einer der fähigsten Regisseure unserer Zeit

Im Großen und Ganzen ist dies der Film eines der fähigsten Regisseure unserer Zeit: Denis Villeneuve überrascht nicht allein durch die grandiosen Bilder, sondern auch mit narrativen Wendungen, und er hat seine dunkle Zukunftsvision jenseits der heute modern gewordenen Transhumanität weitergedacht, indem er seinen Protagonisten Wege schenkt, sich aus ihrer Seriennummern-Existenz heraus einen Namen und die Deutungshoheit über ihre Geschichte zu erkämpfen.