Jesper Juul ist Familientherapeut. Im Interview spricht er über die Kindheit früher und heute. Foto: Michael Rauhe

Der bekannte Familientherapeut Jesper Juul spricht im Interview über Kindheit früher und heute. Es werde wohl noch eine weitere Generation dauern, bis alle gelernt haben, einen echten Dialog in der Familie zu führen.

Herr Juul, wie hat sich Kindheit verändert?

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Kinder Kompetenzen und Talente entfalten können, die vorher nicht gefragt waren. Zum Beispiel unabhängig zu sein oder Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Gleichzeitig mussten Eltern lernen, dass Kinder nicht alles wissen und mit allem umgehen können. Sie brauchen emphatische Erwachsene, die sie leiten. Das gilt zum Beispiel für den Bereich sozialer Medien. Kinder wissen zwar genau, was sie wollen, aber nicht, was gut für sie ist. Leider fehlt auch vielen Erwachsenen noch diese Reife im Umgang mit neuen Medien. Sie sind schlechte Vorbilder oder setzen viel zu strenge Regeln.
Hat sich das Eltern-Kind-Verhältnis geändert?
Es entwickelt sich – leider schmerzhaft langsam – hin zu mehr Gleichwürdigkeit, wie ich es nenne. Die meisten Eltern zögern aber noch, Schritte in diese neue Richtung zu machen. Wir sehen viele Erziehungsexperimente derzeit, einige sind erfolgreich, andere nicht. In manchen Familien sind Eltern nur noch in einer Vermittlerrolle, und ihre Kinder haben mehr Macht bekommen, als für alle Beteiligten gut ist. In anderen Familien versuchen Eltern durch Regeln und Grenzen zu erziehen, was höchstens ein paar Jahre funktioniert. Es wird wahrscheinlich noch eine weitere Generation dauern, bis alle gelernt haben, einen echten Dialog in der Familie zu führen.
Sind Kinder heute glücklicher als früher?
Ich bin der Überzeugung, dass Kinder heute zu stärkeren, kreativeren und lebenstüchtigeren Menschen heranwachsen als jemals zuvor. Ich glaube aber auch, dass die Summe an emotionalen und existenziellen Schmerzen, die sie erfahren, nicht weniger geworden ist. Allerdings versuchen Eltern seit etwa 30 Jahren Kinder so zu erziehen, dass sie besser mit solchen Schmerzen, also mit dem Leben umgehen können. Bis ihnen das gelingt, ist es sicher noch ein Stück Weg, aber sie sind näher dran, als es zum Beispiel meine Generation je war.