Wenn die Eltern sich trennen, werden die Kinder oft zum Spielball und Druckmittel. Manche Mutter und mancher Vater schrecken auch vor einer Entführung des eigenen Nachwuchses nicht zurück Foto: Fotolia/DrUGO_1.0

Eine Trennung der Eltern wird oft auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Immer häufiger greifen Mütter und Väter zum äußersten Mittel – und entführen den eigenen Nachwuchs.

Stuttgart - Diesen Tag Mitte August wird Tom S. (Name geändert) nie vergessen. Den Tag, an dem der ältere seiner beiden kleinen Söhne Geburtstag hat. Das Telefongespräch, bei dem er dem Kleinen nur gratulieren will, weil der mit seiner Mutter auf Besuch bei Verwandten ein Stück weit entfernt ist. Kurz darauf sollen sie alle zurückkommen nach Hause. Doch der Tag im August ist bis heute der letzte, an dem Tom S. mit seinen Kindern gesprochen hat.

In Ordnung ist schon lange zuvor nichts mehr. Das Ehepaar hat Probleme. Hauptursache, sagt der Stuttgarter, seien psychische Auffälligkeiten seiner Frau gewesen. Immer häufiger schaltet sich das Jugendamt ein. Ist er bei der Arbeit, hält sie die Termine nicht ein. Schließlich wird sie verpflichtet, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Doch sie tut es nicht. Die beiden Söhne fehlen immer wieder im Kindergarten. „Natürlich habe ich an Scheidung gedacht“, sagt Tom S. Doch er habe gezögert: „Ich hatte Angst wegen der Kinder. Wegen ihnen wollte ich nicht gehen.“

Im August spitzt sich die Lage zu. Noch während die Mutter mit den beiden Söhnen auf Verwandtschaftsbesuch ist, erfährt sie, dass ein Cannstatter Gericht das alleinige Sorgerecht dem Vater zusprechen will – wegen Gefährdung des Kindeswohls. In Panik flieht sie mit dem Nachwuchs, taucht in einem Reutlinger Frauenhaus auf. Als die Hausleitung das Stuttgarter Jugendamt informiert, verschwinden die drei endgültig. Bis heute.

Ermittlungen der Polizei helfen nicht weiter

Zurück bleibt ein völlig verzweifelter Vater. „Die Kinder sind jetzt seit über vier Monaten psychischer Gewalt ausgesetzt“, sagt er. Alles versucht habe er, erzählt der junge Mann. Dazu gehören eine Vermisstenanzeige und ein Strafantrag bei der Polizei. Diverse Vernehmungen. Doch bis heute kein Ergebnis. „Man hat mir gesagt, mein Fall sei nachrangig“, sagt Tom S. mit Verbitterung in der Stimme. Es handle sich bei der Entführerin schließlich um die Mutter. Der junge Mann, der vermutet, dass sich Noch-Frau und Kinder trotz Wurzeln in Asien noch im Schengen-Raum aufhalten, startet einen Suchaufruf im Internet. Teile davon löscht er nachher wieder. Denn statt Hinweisen auf den Aufenthaltsort erntet er im Netz vorwiegend massive Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Geschichte.

Die rechtliche Lage in solchen Fällen ist kompliziert. „Wir ermitteln wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger“, sagt Claudia Krauth von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Allerdings: „Die Polizei fahndet nach der Mutter. Das Strafrecht ist nicht dazu da, die Kinder zurückzuholen.“ In diesem Fall läuft die Suche ohne Öffentlichkeitsfahndung – auch, um die Kinder nicht unnötig zu gefährden. Die flüchtige Mutter ist nicht zur Festnahme ausgeschrieben. Träfe man sie an, und die Kinder wären bei ihr, würde man die Söhne in Obhut nehmen und die Mutter laufen lassen. Hätte sie die Kinder nicht bei sich, ist völlig offen, was passieren würde. Doch selbst die eigene Anwältin weiß nicht, was aus ihrer Mandantin geworden ist: „Das kann ich nicht sagen. Und ich weiß auch nicht, wie sie derzeit einzuschätzen ist.“

Ein Ditzinger sucht seine Tochter seit 15 Monaten

Dem Vater sind im Grunde die Hände gebunden. Wie weit das gehen kann, zeigt ein anderer Fall aus der Region. Ein Mann aus Ditzingen sucht seit fast 15 Monaten nach seiner kleinen Tochter. Die Mutter hatte sie nach Polen entführt. Die Frau ist später gefasst worden und sitzt inzwischen in Deutschland im Gefängnis. Drei Jahre und drei Monate Haft wegen der Entziehung Minderjähriger lautet das Urteil. Doch das Kind bleibt verschwunden – ebenso wie die polnische Großmutter, bei der sich das Mädchen wohl aufhalten dürfte.

Die Behörden im Nachbarland, kritisiert der fassungslose Vater, zeigten wenig Interesse an einer Verfolgung des Falles. Er selbst ist auch mit Detektiven und zahlreichen Fahrten nach Polen nicht weitergekommen. Jetzt hat er eine Online-Petition gestartet, die er an den polnischen Präsidenten Andrzej Duda richtet. In der Hoffnung, doch noch Gehör zu finden.

Das müsste eigentlich selbstverständlich sein. Denn auch Polen gehört zu den 93 Staaten, die sich dem sogenannten Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) angeschlossen haben. Es regelt die Vorschriften und Vorgehensweisen bei Kindesentziehungen und die Rückkehr über Staatsgrenzen hinweg. „Ziel ist immer die schnellstmögliche Rückführung des Kindes in seinen Heimatstaat“, sagt Piotr Malachowski vom Bundesjustizministerium. Die Verfahren seien allerdings häufig schwierig. Nicht nur, weil der internationale Kontext Erschwernisse wie Sprach- und Kulturunterschiede mit sich bringe, sondern auch, weil die Verfahren eilbedürftig seien. „Je länger ein Kind sich im Entführungsstaat aufhält, umso schwieriger wird die Rückführung, weil es sich immer stärker dort einlebt“, so der Sprecher. Dauert das Verfahren zu lange, kehrt das Kind in eine fremde Umgebung zurück. Und womöglich zu einem Elternteil, das es kaum noch wiedererkennt.

Die Zahl der Kindesentziehungen ins Ausland steigt

Wie viele Entziehungen von Minderjährigen es innerhalb Deutschlands gibt, wird nirgendwo erfasst. Doch die Zahl der Fälle von Entziehungen ins Ausland häuft sich laut dem zuständigen Bundesamt für Justiz. „Sie ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen“, weiß Malachowski. Im vergangenen Jahr sind es nach dem HKÜ 367 gewesen, jeweils etwa gleich viele Entführungen ins Ausland und vom Ausland nach Deutschland. 2010 waren es noch 287.

Seit dem Jahr 2000 verzeichnet das Bundesamt insgesamt 4042 Fälle. Auffällig dabei: Rund 70 Prozent der Täter sind Mütter. Woran das liegt, können Experten schwer erklären. „Die Gründe sind ganz unterschiedlich“, sagt Malachowski. Grundsätzlich könne man nur sagen, dass Auslöser meist eine Eskalation des Konflikts zwischen den Eltern ist. Dann sieht ein Elternteil rot und greift zum äußersten Mittel. Auch die Ursachen für den Anstieg insgesamt sind unklar. Experten vermuten allerdings, dass schlicht die steigende Zahl binationaler Ehen die nächstliegende Erklärung bildet. Stammen die Ehepartner aus unterschiedlichen Ländern, drängt sich der Schritt auf, dass einer von beiden bei massiven Problemen den Weg ins Ausland sucht, wo es Verwandte, Unterstützung und bessere Ortskenntnisse gibt.

Nur die Hälfte der Kinder kommt tatsächlich zurück

Und trotz aller internationaler Abkommen ist diese Flucht nicht selten erfolgreich. Von den bisher 367 beim Bundesamt eingegangenen Fällen im Jahr 2014 sind nur 135 dahingehend gelöst, dass die Kinder zurückgekehrt sind. 78 Verfahren sind auch ein Jahr später noch nicht abgeschlossen. Betrachtet man den Zeitraum seit dem Jahr 2000, sind nur in 45 Prozent der Verfahren die Kinder tatsächlich in ihr Heimatland zurückgebracht worden. Dazu kommt noch eine unbekannte Zahl von Fällen, in denen die Gerichte schließlich nicht mehr eingreifen mussten, weil die Eltern sich doch noch geeinigt haben.

Selbst das würde Tom S. für sich nicht ausschließen. „Es stehen alle Türen offen. Sie muss nur zurückkommen“, sagt er über seine verschwundene Frau. Der ältere der beiden Söhne hat inzwischen seine Einschulung verpasst. „Man ist einfach verzweifelt und versucht alles“, sagt Tom S. Konzentriert der Arbeit nachzugehen fällt schwer. Das ständige Warten auf ein Lebenszeichen, die zähen Ermittlungen, die Ungewissheit, all das zehrt an den Nerven. Über allem steht ständig die eine Frage: Wird er seine Kinder wiedersehen? Nichts anderes zählt mehr für ihn. Seit diesem Tag im August.