Martin Gülich hält sich beim Erzählen an die Wirklichkeit. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

In Stuttgart leben und arbeiten bekannte Kinder- und Jugendbuchautoren - in unserer Reihe stellen wir sie vor. Martin Gülich zeigt jungen Lesern die Welt aus ungewohnter Perspektive.

Stuttgart - Tim hatte einen Fahrradunfall, nun hat er ein steifes Bein. Tim ist die Hauptfigur in Martin Gülichs Jugendroman „Der Zufall kann mich mal“ – eine typische Außenseiterfigur, eine typische Figur des Autors Gülich: Einer, der sich nicht in die Rolle fügen will, die ihm zugewiesen scheint, einer, der sich auflehnt und selbstbewusst in seinem Freundeskreis behauptet.

Ausflüge ins Reich der Fantasie sind Martin Gülichs Sache nicht. „Mich hat das nie interessiert“, sagt er. „Ich finde die Realität schon komplex und unwirklich genug.“ Gülich geht mit offenen Augen durch die Welt, liest auf, was er findet, setzt es neu zusammen. „Ich weiß oft nicht, woher die Figuren kommen, die im Zentrum meiner Bücher stehen“, sagt er. „Aber wenn ich vor einer Schulklasse oder vor einer Gruppe von Jugendlichen stehe und lese, dann ist mein Blick immer gleich auf dem einen, der am Rand steht. Das sind die Figuren, die mich interessieren.“ Figuren, die die Welt aus ihrer ganz eigenen Perspektive sehen, die Dinge erleben, die andere so nicht erleben.

Martin Gülich weiß natürlich, dass Fantasy bei vielen jungen Lesern hoch im Kurs steht. Er hat zahlreiche Workshops mit Jugendlichen veranstaltet, viele Schreibversuche Jugendlicher gelesen. Dass er selbst mit Geschichten, die fern jeder Fantastik sind, großen Erfolg bei ihnen hat, liegt, wie er vermutet, an der Einfühlung, mit der er seinen Protagonisten begegnet. „Manchmal“, sagt er, „frage ich mich, ob ich mir das überhaupt anmaßen kann, als 54-jähriger für Jugendliche zu schreiben? Das Entscheidende dabei ist aber, dass man die Jugendlichen, und vor allen seine Hauptfigur, ernst nimmt, mit allen ihren Nöten, Ängsten und Sorgen. Ich glaube, Mark Twain war es, der sagte: Für Jugendliche muss man genauso schreiben, wie für Erwachsene, nur besser.“

Balanceakt zwischen Nähe und Distanz

Und so fühlt Martin Gülich sich ein in Tim mit dem steifen Bein, in Seb, der seine Sommerferien auf einer langweiligen Ostseeinsel verbringen muss, dort aber einem ungewöhnlichen Mädchen begegnet, in Finn, der bei dem neuen Mädchen in der Klasse erst einmal gehörig abblitzt. Für sie alle hat er nach einer eigenen Sprache gesucht, und er hat sie gefunden. Er schreibt stets in der ersten Person, sagt: „Ich möchte nah bei einer Figur sein, ich möchte aus ihren Augen schauen. Ein sehr unmittelbares Erzählen erschien mir immer als sehr angemessener Ton.“ Aber er meidet dabei jedes Klischee einer Jugendsprache, gestattet sich allenfalls, seine Diktion dem Mündlichen anzunähern, indem er seine Syntax aufbricht, Sätze unvollendet lässt. Gülich weiß, dass Jugendliche anders sprechen als Erwachsene annehmen, dass Jugendwörter flüchtig sind, dass Erwachsene, die sich bei Jugendlichen anbiedern möchten höchst peinlich sind. Sein Schreiben wird so zu einem Balanceakt zwischen Nähe und Distanz: „Es gehört viel Intuition dazu, glaubhaft rüberzukommen“, sagt er, „aber ich verfüge durch meine Erfahrung als Schriftsteller auch über ein gewisses Gefühl für die Sprache.“

Das Interesse an Sprache war es, das Martin Gülich über Umwege zum Kinderbuchautor werden ließ; in die Wiege gelegt wurde es ihm nicht. „In der Schule“, erzählt er, „war ich eher mathematisch begabt und in Deutsch sehr mittelmäßig.“ Geboren in Karlsruhe studierte Martin Gülich zunächst Wirtschaftsingenieurwesen und arbeitete als Informatiker. Bald verspürte er aber den Wunsch, der mathematisch-formalen Welt etwas entgegenzusetzen. Er begann zu malen, Klavier zu spielen, gab beides wieder auf, blieb beim Schreiben. Er versuchte den Einstieg ins Autorenleben zunächst befristet, und die drei Jahre, die er sich gab, verstrichen nahezu ganz, ehe ein Verlag sich seiner annahm. „Vorsaison“ hieß sein erstes Buch, erschienen 1999 – eine Pubertätsgeschichte, geschrieben für Erwachsene, die bei jungen Publikum größeren Anklang fand und schließlich als Jugendbuch neu aufgelegt wurde.

Die Stimme einer alten Frau

Bis heute hat Martin Gülich zwölf Romane veröffentlicht – je sechs für Erwachsene und für Jugendliche. Seit dreieinhalb Jahren lebt er in Stuttgart; in die Welt der Kinder- und Jugendbücher trat er ganz nach der Geburt seiner Tochter vor sieben Jahren ein. „Plötzlich“, sagt er, „habe ich weit mehr Kinderbücher vorgelesen, als ich Erwachsenenbücher gelesen habe.“

Nach drei Jahren, in denen er sich dem Jugendbuch widmete, denkt Martin Gülich nun wieder daran, einen Roman für Erwachsene verfassen. Die Idee zu diesem neuen Buch kam ihm auf ungewöhnliche Weise: „Ich war in der Stadtbibliothek bei der Verleihung des Cotta-Peises an Peter Stamm“, erzählt er. „Ein klassisches Duo spielte dort eine wunderschöne, traurige Musik. Und diese Musik hat auf einmal eine Figur in mir freigesetzt, die Stimme einer alten Frau, die in rastlosem Ton erzählt, von ihrem Sohn.“ Ein Exposé existiert bereits. Aus der Perspektive einer Frau hat er noch nie zuvor erzählt. „Es muss sich erst noch zeigen, ob ich das überhaupt kann.“