Franziska Schmitz (rechts) als das verführerische Internet Foto: Tobias Metz

Das Internet ist gefährlich. Und das Theater kann es beweisen. Im Jungen Ensemble Stuttgart (Jes) ist die Auftragsarbeit „Keine Party für den Tiger“ uraufgeführt worden.

Stuttgart - Facebook, Twitter, Whats-App, Instagram, Snapchat: Das Online-Dauerfeuer hat schon Zehnjährige im Griff. Mit Theater über Fortschritt, Verlockung und Verantwortung zu erzählen, das ist am Wochenende in Stuttgart auf fabelhafte Weise gelungen. Martin Baltscheits Lehrstück „Keine Party für den Tiger“ – eine Auftragsarbeit des Jungen Ensembles Stuttgart (Jes) – wurde von Frank Hörner und den Schauspielern als wild- subtiles Spiel mit grotesk ausgestatteten Figuren auf fantasievoller Bühne adaptiert – das Publikum war hin und weg.

Gefangen in seinen Genen, hat der Tiger (Lucas Federhen in sündhaft schönen roten Lackschuhen) seine Einsamkeit satt. Das Internet – Franziska Schmitz im mauvefarbenen Outfit, cool, hilfsbereit, niemals schlecht gelaunt – wird ein Rendezvous arrangieren. Mit dem Song „Ich bin das Internet, ich rette die Welt“ (Musik: Sebastian Maier) hat sich das Wesen eines Tages im reptilienhaftgrünschimmernden Wald auf Podesten eingerichtet. Sein Versprechen „Ich mach’ glücklich“ setzt das Internet zügig und konsequent um und arrangiert das Rendezvous für den Tiger ausgerechnet mit dem ängstlichen Reh.

Der Maulwurf kauft online eine Brille

Höchst amüsant fürs Publikum präsentieren sich die Akteure – von Stefanie Stuhldreier ironisch gebrochen eingekleidet und geschminkt – in ihrem Naturell. Jessica Cuna, ledernes Brustteil, Riesencreolen als Ohren, springt leichtfüßig und fluchtbereit als Reh durch den Dschungel mit tropischem Vogelgezwitscher.

Alexander Redwitz ist der Maulwurf. Blind torkelt der ewig Durchfallgeplagte mit wirrem schwarzem Haarschopf über die Bühne, lässt die Hosen runter, rafft sie wieder hoch, wenn sich ein anderes Tier nähert. Eine Brille aus dem Online-Shop hilft, der Maulwurf ist geblendet. „Lasst uns die Welt ansehen“, sagt der Maulwurf, schaut kurz ins Publikum, dann ins Netz.

Die Motte bekommt ein Smartphone

Sabine Zeininger gibt die Bärin, latscht mit klebrigen Sandalen herum, immer gierig: Das Internet verhilft zu sicheren Honigquellen. Die Lyrik textende Motte – Gerd Ritter bleich geschminkt, die Augen schwarz umrandet und die Lippen in Rot getränkt – bekommt ein Smartphone und sagt: „Von heute zeige ich der Welt – ein Bild von mir.“

Es sind auch die sprachlichen Zweideutigkeiten, mit denen Martin Baltscheit von den Ambivalenzen der Technik erzählt. Und er nutzt die Naivität der Tiere, deren Verführbarkeit der von Kindern in nichts nachsteht. Ausgerechnet die melancholische Motte – der Künstler unter den Figuren – wird später das erste Opfer des Internets sein. Das arrangierte Rendezvous von Tiger und Reh (als Blind Date mit symbolhaft schwarzen Augenbinden) hat die beiden für eine Zeit glücklich gemacht. „Die Liebe macht aus Feindschaft Zukunft“, fabuliert der Tiger. Doch dann ist die Motte tot. Wie konnte das passieren? Erschreckt schauen die Tiere des Waldes ins Publikum. Der Tiger hat sie mit seiner Pranke erschlagen. Ein Rauchwölkchen steigt auf. Weil sich der Tiger durch ein Foto im Netz gemobbt fühlte, griff ein alter Reflex.

Der Dschungel wird zur gleißend neuen Welt

Betroffen intoniert die Community eine mehrstimmige Version von „So nimm denn meine Hände“, hängt den grauen Kittel der Motte an einen Lichterbaum (denn das Internet hat aus dem Dschungel eine gleißende neue Welt gezaubert) und schwört Rache. Im Ringen um eine Lösung entsteht eine Keilerei, jeder beschuldigt jeden, das Internet und seine Möglichkeiten missbraucht zu haben. Doch auch jetzt weiß das Internet Rat: In einer biomechanischen Reproduktion kehrt die Motte zurück. Verjüngt, verschönt im farbenfrohen Outfit, repräsentiert sie auf der Videowand „eine neue Stufe der Schöpfung“. Auf der Videowand flackert Datensalat, die Tiere stehen am Bühnenrand und fordern das Publikum zum Dialog auf: „Habt ihr eine Frage an uns?“.

„Keine Party für den Tiger“ im Jes. Nächste Aufführungen am 12., 28. und 29. Oktober, jeweils um 11 Uhr, Tickets unter: www.jes-stuttgart.de