Wie ein Mahnmal: das zerstörte Hochhaus in London. Foto: PA Wire

Nach dem Großbrand in einem Londoner Hochhaus steigt die Zahl der Toten weiter an, 17 sind es bisher offiziell. Dabei fehlte es nicht an Warnungen. Einige Mieter hatten ein solches Desaster geradezu erwartet. Aber niemand beachtete sie.

London - Noch 36 Stunden nach dem Ausbruch des katastrophalen Feuers im Grenfell Tower-Block in London züngelten Donnerstagnachmittag in mehreren Wohnungen noch immer ein paar Flammen. Dutzende von Menschen, darunter viele Kinder, sollen beim Brand des 24-stöckigen Wohnblocks in der Nacht zuvor ums Leben gekommen sein. Aus Angst, dass Teile des Gebäudes einbrechen könnten, hielten sich am Donnerstag nur kleine Gruppen der Londoner Feuerwehr dort auf. Zuvor waren Rettungskräfte unter Einsatz des eigenen Lebens bis zu den obersten Stockwerken durchgedrungen, um nach Überlebenden zu suchen.

Zwischen 400 und 600 Personen sollen sich in der Nacht des Feuers in dem Block im Londoner Stadtteil Nord-Kensington befunden haben. Viele von ihnen galten am Donnerstag als vermisst. Es werde „wohl Wochen“ dauern, bis man über die wahre Zahl der Opfer Klarheit habe, machte der Londoner Polizeikommandant Stuart Cundy deutlich. Der Brand, fügte er hinzu, sei „von einer beispiellosen Dimension“ gewesen. Das Feuer, das in der Nacht auf Mittwoch gegen ein Uhr ausgebrochen war, hatte auf einer der unteren Etagen begonnen. Es ergriff binnen einer halben Stunde vom gesamten Gebäude Besitz. Vor allem auf den oberen Stockwerken fanden sich die Bewohner in ihren Wohnungen eingeschlossen, weil das Treppenhaus sich schnell mit schwarzem Qualm füllte. Wer zu lange zögerte, war abgeschnitten vom Fluchtweg zum Erdgeschoss. Viele der Eingeschlossenen wurden in brennenden Fensterrahmen gesichtet, in denen sie verzweifelt nach Hilfe riefen. Einige sprangen aus den Fenstern oder warfen ihre Kinder in die Tiefe. Augenzeugen sprachen von „horrenden Szenen“ zwischen ein Uhr und vier Uhr in der Nacht.

Fieberhaft suchen Menschen nach Vermissten

Am Donnerstag bestätigte die Polizei den Tod von 17 Personen. Die Rettungsmannschaften warnten aber davor, dass die Zahl der Opfer wesentlich höher liegen werde. Auch am Donnerstag suchten Angehörige und Freunde noch fieberhaft nach vermisst gemeldeten Personen in der Umgebung und in den sechs Kliniken, in die mehr als 70 Patienten eingeliefert worden waren. Eine der vielen schrecklichen Geschichten, die nach und nach ans Tageslicht kamen, war die der Eltern des kleinen Issac Shawo, die in der Nacht des Brands mit dem fünfjährigen Isaac und seinem dreijährigen Bruder Luca aus dem 18. Stockwerk die Treppe hinunterstürmten. Isaac hielt die Hand eines Nachbarn fest, ging aber verloren im Rauch und Gedränge. Er ist seither nirgendwo aufgetaucht. Seine Mutter, Genet Shawo, will nicht glauben, dass ihr Kleiner umgekommen sein soll. „Ich will nicht das Schlimmste befürchten“, sagte sie einem örtlichen Reporter. „Ich hoffe und bete noch immer für ihn.“ Im Feuer habe der Junge ihr zugerufen, dass er nicht sterben wolle: „Ich bin zu allen Notzentren gerannt, in allen Krankenhäusern gewesen. Aber niemand weiß etwas von ihm.“

Auch am Donnerstag noch fegten Aschebrocken und Stücke der Außenverschalung des Gebäudes durch die Straßen von Kensington. Ein stechender Geruch lag über diesem Teil der Stadt. Kirchen, karitative Verbände und spontan herbeigeströmte Freiwillige versuchten, die nach ihren Familien Fahndenden zu trösten und den Geretteten ein Dach überm Kopf zu verschaffen und sie mit Kleidern und Lebensmitteln zu versorgen. Zeitweise schleppten Mitbürger so viel an, dass sie abgewiesen werden mussten – weil es nicht genug Platz für die Berge angelieferter Dinge gab.

Kritik an Politik und Verwaltungskonzern

Diejenigen, die solche Hilfsaktionen in Eigenregie zu koordinieren suchten, klagten darüber, dass in den Stunden der größten Not seitens des Gemeinderats oder der Regierung „kein Mensch“ die Verantwortung übernommen habe. Der konservative Vorsitzende des Gemeinderats von Kensington und Chelsea, Nicolas Paget-Brown, fand lediglich Zeit für ein Interview mit der BBC, in dem er, mit dem Rücken zum brennenden Tower, seine Administration gegen den Vorwurf grober Verletzung der Bau-Aufsichtspflicht verteidigte. Einer der Anwohner rief ihm empört zu: „Paget-Brown, du hast Blut an den Händen.“

Der Zorn der Menschen richtet sich zugleich gegen den für die Blocks zuständigen Verwaltungskonzern Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation (KCTMO), der angeblich über Jahre hin Warnungen vor einem akuten Brandrisiko ignoriert hatte. Seit Langem nämlich, klagen Mitglieder der Mieter-Selbsthilfegruppe Grenfell Action Group, habe die KCTMO wiederholte Klagen über Feuerrisiken „schlicht abgetan“. Dabei sei die Managementorganisation, eine der größten im Lande, auf alle möglichen Gefahren hingewiesen worden – wie auf riskant platzierte Boiler, bedenkliche Gasleitungen im Hausgang, herumliegenden Müll, fehlende Sprinkleranlagen und den Mangel an Notausgängen in diesem und anderen Blocks. Noch im November hatte die Gruppe erklärt: „Es ist ein wahrhaft schauerlicher Gedanke, aber die Grenfell-Aktionsgruppe ist fest davon überzeugt, dass nur eine Katastrophe die Unfähigkeit und Inkompetenz unserer Vermieterin, der KCTMO, ans Tageslicht bringen wird.“

Außenverkleidung ist völlig verkohlt

Auch Bedenken, die die Mieter und einzelne Labour-Stadträte anlässlich umfangreicher Renovierungsarbeiten am Wohnblock im vorigen Sommer vorbrachten, verhallten offensichtlich ungehört. Ein ehemaliger Vorsitzender des Mieterbundes für Grenfell Tower, David Collins, wunderte sich denn auch kein bisschen über das Flammeninferno. Collins, der bis Herbst vergangenen Jahres dort gewohnt hatte, erwachte zur Nachricht von der Katastrophe mit dem Gedanken: „Ich war empört, ich war wütend, ich war entsetzt – aber überrascht war ich nicht. Wir alle wussten, dass es erst so eine Tragödie brauchen würde, bevor irgendjemand endlich irgendetwas tun würde hier.“

Mittlerweile gilt das Augenmerk vor allem der Außenverkleidung des Blocks, die bei der neun Millionen Pfund teuren Renovierung des letzten Sommers am Grenfell Tower angebracht wurde. Zur besseren Isolation und Verschönerung war die Fassade mit Aluminiumverbundplatten verkleidet worden. Nach Ansicht von Bauexperten hat die Plastikschicht darauf, gleichermaßen wie eine Kaminöffnung, dem Feuer einen sofortigen Durchzug, eine rekordschnelle Verbreitung seitwärts und nach oben verschafft. Mit diesem Effekt hatte man weder bei den Behörden noch bei der Feuerwehr gerechnet. Noch als die Bewohner der oberen Stockwerke in Panik die Rettungsdienste anriefen, wurde ihnen erklärt, sie sollten in ihren Wohnungen bleiben, ihre Türen verschlossen halten und Türspalten mit Tüchern gegen den Rauch abdichten. Die Gewalt des Feuers drückte freilich mühelos Türen ein, ließ Fensterglas splittern und füllte alle Räume mit Flammen. Die Wohnungen wurden zur Falle. Der erteilte Rat erwies sich als falsch.

Labour-Abgeordneter spricht von „Totschlag“

Oppositionspolitiker kritisierten, mangelnde örtliche Kontrolle und nachlässige Sicherheitsvorschriften, Gefälligkeiten gegenüber Bauunternehmern und die Haushaltskürzungen der vergangenen Jahre hätten alle ihren Anteil an der Katastrophe gehabt. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn erklärte: „Wenn man den Kommunen nicht das Geld gibt, das sie brauchen, zahlt man einen hohen Preis in Form mangelnder Sicherheit überall im Lande.“ Sprinkleranlagen seien das Mindeste gewesen, in einem solchen Block. Der Londoner Labour-Abgeordnete David Lammy sprach sogar grimmig von „Totschlag, verschuldet von einem Unternehmen“. Mehrfach wurde von Labour-Leuten darauf hingewiesen, dass es einen ähnlichen Brand vor neun Jahren schon einmal in Süd-London gegeben habe, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen – ohne dass danach etwas geschehen sei.

Feuerwehrleute in London erinnerten auch an einen Großbrand in einem 21-stöckigen Wohnblock im australischen Melbourne im Jahr 2014. Damals schoss das Feuer binnen elf Minuten 13 Stockwerke hoch. In Melbourne war die gleiche Art von Verkleidung wie in Nord-Kensington verwendet worden. Die rasende Ausbreitung des Feuers, erklären britische Experten, stand damals „in direktem Zusammenhang“ mit der Außenverkleidung. Mehrere britische Stadtverwaltungen ordneten eine unmittelbare Überprüfung der Sicherheit ähnlicher Wohnblocks an. Insgesamt soll es etwa 4000 Blocks entsprechender Größe im Land geben .

Theresa May lobte die Feuerwehr

Premierministerin Theresa May inspizierte am Donnerstag den Schauplatz der Katastrophe und versprach eine „volle öffentliche Untersuchung“, während Königin Elizabeth II. den Angehörigen der Opfer ihr Beileid aussprach. May lobte die Feuerwehrleute für ihren „heroischen Einsatz“. Sie zog sich aber Kritik dafür zu, dass sie keine Anwohner des Wohnblocks treffen wollte bei dieser „Besichtigungstour“.

Viele Londoner konnten unterdessen nicht fassen, dass ausgerechnet in einem der reichsten Stadtviertel ganz Europas auf kommunalen Wohnraum angewiesene Bürger „im 21. Jahrhundert“ zu einem solch schrecklichen Ende hatten kommen sollen. „Das ist doch“, kommentierte der Londoner „Guardian“, „eine wirklich augenfällige Illustration für den tiefen Graben, der die Armen und die Reichen bei uns trennt, die nur ein paar Straßen weit von einander entfernt zu Hause sind.“