Kaiser Franz und Kaiser Franz auf Degerlochs Höhen Foto: privat

Er ist der Kaiser Franz. Mit eigener Krone. Die über dem Tresen im Vereinsheim des tus Stuttgart hängt. Franz Hübner sorgt seit fünf Jahrzehnten für Wohl und Wehe seiner Gäste. Die schätzen ihre Hoheit und sein Essen so sehr, dass sie ihm einen zweiten Spitznamen verpasst haben: „Schnitzel-Franz.“

Stuttgart - Franz Hübner hat ein Rätsel der Menschheit gelöst. Er kann die Zeit rückwärts laufen lassen. Zumindest, wenn man der Uhr glaubt, die über der Theke hängt: Die Zeiger drehen sich links herum. Offenbar ist dieses Vereinsheim auf der Waldau ein Jungbrunnen. Zumindest kann Hübner die Zeit anhalten: Mit seinen 86 Jahren steht er immer noch Abend für Abend hinter dem Tresen und bedient seine Gäste. „Ich bin gesund“ sagt er, er trinke nicht, er rauche nicht, brauche keine Pillen. Zur Demonstration geht er sogleich in die Knie: „Sehen Sie, ich komme immer noch auf den Boden.“ Man kann daraus nur einen Schluss ziehen, man braucht nicht zwingend Yoga und Wirbelsäulengymnastik, auch Bier zapfen und Schnitzel braten halten fit.

Gestern hat er auch noch den Sportplatz gemäht, damit heute bei seinem Fest alles tiptop ist. Die Handballer des tus haben geladen und eine Jubiläumsparty für Hübner organisiert. Einmal soll er sich bedienen lassen. Ob das klappt, bleibt abzuwarten. Wer überlässt sein Reich schon gerne anderen? Auch wenn es nur für einen Tag ist.

Doch nun versuchen wir uns auch einmal an diesem Trick und drehen die Uhr zurück. Mitte der 50er Jahre machte sich der Werkzeugmacher Franz Hübner auf nach Stuttgart. In Oberstaufen im heimischen Allgäu war keine Arbeit und kein Auskommen zu finden. Mit seiner 200er Zündapp knatterte er nach Württemberg. Zunächst schaffte er bei Zeiss-Ikon, ehe in der Chef der Brillenfabrik Hampl in Gerlingen anwarb. Nicht zuletzt, weil der flinke Rechtsaußen Hübner ziemlich gut kicken konnte.

Der Fußball eröffnete ihm auch neue Karriere. Nach einem Freundschaftsspiel bei den Sportfreunden Stuttgart saß man in deren Vereinsheim beisammen. „Ich hab’ mich nützlich gemacht“, erinnert sich Hübner, „und meine Kameraden bedient.“ Das tat er so gut, dass der Vorstand der Sportfreunde ihn beiseite nahm und sagte: „Das machst Du aber klasse, übrigens, ich suche einen Wirt.“ Drei Jahre später wiederholte sich die Geschichte. Da brauchte man nebenan beim Turnverein Stuttgart, einem Vorgänger des tus, einen Patron für das nagelneue Vereinsheim. 1964 war das. Nun drehen wir die Zeiger wieder rechtsherum und reisen 50 Jahre in die Zukunft. 2014 ist es. Oder sollte es sein. Denn in der Gaststätte tus 2 sieht es immer noch so aus wie vor 50 Jahren. Die Küche hat man von einem halben Jahr ganz neu gemacht, der Gastraum ist indes original 1964. Mal abgesehen von dem Linoleum. Damals war’s modern, später nannte man es altbacken, heute sagt man Retro dazu. Auch die Karte braucht keinen Schnickschnack. Da hat sich einzig der Preis geändert. Tellerschnitzel mit Pommes für 9 Euro gibt es, oder drei Maultaschen geröstet für 7 Euro.

Auch Hübner findet, es habe sich nicht so viel geändert. Zwischenzeitlich seien die Jungen mal weggeblieben, weil sie lieber „in die Stadt sind in die Disco“. Aber nach wie vor treffe sich die tus-Familie bei ihm. Einige wie die Alfred-Dompert-Gruppe schon seit fast 50 Jahren. Der Olympiadritte im 3000-Meter-Hindernislauf hatte damals Gleichgesinnte um sich geschart, man trieb Sport aller Art. Und trank hinterher ein Bier beim Franz. Alfred Dompert starb 1991, seine Mitstreiter sind immer noch aktiv. Und natürlich weiß Hübner von jedem, was er trinkt und isst. „Wenn die Tür aufgeht, ist das Bier schon gezapft“, sagt Hübner und grinst. Er kennt seine Pappenheimer, und um das zu unterstreichen, fragt er: „Wissen Sie, wie ein Gehörloser ein Radler bestellt?“ Die Antwort: Er hält den Daumen der rechten Hand hoch, dann rührt er mit beiden Händen in der Luft, als trete er Pedale. „Die Gehörlosen haben immer hier Sport gemacht“, sagt Hübner. So lernte er die Gebärdensprache.

Das zeigt, ein guter Wirt kommt ohne Worte aus. So widmen wir uns dem Fotoalbum. Kaiser Franz mit Kaiser Franz, Kaiser Franz mit Guido Buchwald und Pierre Littbarski, alle aufgenommen anno 1985 als die Nationalmannschaft im Waldhotel logierte. Und dann ein ganz besonderer Schatz: Ein Foto von einem Benefizspiel vor über 50 Jahren. Das zeigt Franz Hübner im weißen Trikot neben einem Schrank von Mann, dem Zehnkampf-Olympiasieger Willi Holdorf. Im Hintergrund lugt ein schwarzer Schopf hervor, Weltmeister Fritz Walter. Er schaut über die Schulter des VfB-Idols schlechthin, Robert Schlienz. Zwei der größten Fußballer ihrer Generation, „mit denen durfte ich spielen“, sagt Hübner bescheiden, um dann knitz hinzuzufügen, „aber ich war auch nicht schlecht.“

Manchmal wäre es schön, die Zeit anhalten zu können. Das kann auch ein Kaiser nicht. Doch er hat etwas fast so Schweres geschafft: Ganz egal, ob links oder rechts herum, er ist immer mit der Zeit gegangen.