Harry Wörz hat 450 000 Euro Entschädigung vom Land Baden-Württemberg erstritten. Der Weg dahin war zermürbend, 190 000 Euro gingen schon ans Finanzamt. Foto: dpa

Mit Geld lasse sich ein Justizirrtum nicht wieder gut machen, sagt Harry Wörz und fordert späte Aufklärung. Der wahre Täter sei noch auf freiem Fuß und müsse endlich gefasst werden.

Pforzheim - Hinter seinen Akten sucht Harry Wörz Schutz. Sie geben ihm Halt, sie dokumentieren den Teil seiner Vergangenheit, mit dem er so gerne abschließen würde, aber nicht kann. In einer Stofftasche hat er sie vor sich gestapelt im Pforzheimer Hotel Residenz, einen Ordner im Jeans-Look lässt er fast eineinhalb Stunden lang nicht mehr los. In den Tagungssaal Tanne im Erdgeschoss hat der 50-Jährige zu einer Pressekonferenz geladen. Um zu erzählen, wie er Opfer eines Justizdramas wurde, das mit schlampiger Ermittlungsarbeit der Polizei begann und mit einem Fehlurteil noch lange nicht aufhörte. Viereinhalb Jahre saß der gelernte Installateur und Technische Zeichner wegen versuchten Totschlags an seiner damaligen Frau im Gefängnis. Zu Unrecht – wie der Bundesgerichtshof viele Prozesse später urteilte. Es muss ein anderer gewesen sein, der 1997 die junge Polizistin Andrea Z. im Schlaf mit einem Schal zu erdrosseln versuchte. Sie überlebte schwer verletzt, ist bis heute ein Pflegefall und kann zur Aufklärung des Verbrechens nichts beitragen.

„Dieser Staat hat mir mein Leben kaputt gemacht“, sagt Harry Wörz, ein muskulöser Mann mit Schnauzer und einem schwarz-verwaschenen T-Shirt, auf dem noch die Konturen eines Totenschädels zu sehen sind. Er glaubt nicht mehr an einen Neuanfang, zu oft hat er es schon versucht. „Wie weitermachen?“ – das ist seine größte Sorge. Immerhin eines hat er nach einem langen Rechtsstreit mit dem Land Baden-Württemberg vor Kurzem errungen: eine Entschädigung über 450 000 Euro. Eine Summe, die vor allem den bisherigen und künftigen Verdienstausfall abdecken soll, wie das Landgericht Karlsruhe mitteilte.

Mit dem Vergleich sind sämtliche Ansprüche abgegolten

Beide Seiten hatten nach einer mündlichen Verhandlung im Juni 2015 außergerichtlich weiterverhandelt und sich in einem Vergleich geeinigt. Damit sind sämtliche Ansprüche abgegolten. Zumal Wörz schon einmal 184 000 Euro erhalten hat. Zufrieden ist er damit nicht. „Ich habe abschließen müssen, ich hatte keine Wahl“, sagt Wörz. Die Ärzte hätten ihn gedrängt, auf seine Gesundheit zu achten. „Die sagen, sonst mache ich es nicht mehr lange.“

Keine fünf Minuten hat er in der Nacht auf Dienstag geschlafen. Das Adrenalin hat ihn wachgehalten, das Kopfkino. Wörz ist ein Gezeichneter – gezeichnet von der Zeit im Gefängnis, als er wieder und wieder die Akten studierte und säuberlich abschrieb. Von den Prozessen, die er anstrengte, um seine Unschuld zu beweisen. 2005 sprach ihn das Landgericht Mannheim frei – ein Urteil, das der Bundesgerichtshof wegen Mängeln in der Beweisführung wenig später kassierte. 2009 wird Wörz erneut freigesprochen. Er ist gezeichnet von den Verlusten, die ihm bis heute zusetzen. „Ich habe nicht nur meine Frau, sondern auch meinen Sohn verloren“, sagt Wörz, der keinen Kontakt mehr zu ihm hat. Das Sorgerecht ist ihm während der Haft von den Schwiegereltern entzogen worden. Der junge Mann ist wie seine Mutter und sein Großvater zur Pforzheimer Polizei gegangen. Vielleicht werde er sich eines Tages wieder melden, wünscht sich Wörz. Er will seinen Sohn nicht bedrängen.

Von der Justiz ist Wörz tief enttäuscht

Auf eine offizielle Entschuldigung für seine Jahre im Gefängnis warte er bis heute, sagt Wörz. Er ist nicht nur von der Justiz tief enttäuscht. Auch auf die Politiker ist er nicht gut zu sprechen. „Das sind alles Schwätzer“, ist er überzeugt. So sehr hatte er darauf gesetzt, dass die zermürbenden Entschädigungsverhandlungen durch ein politisches Machtwort abgekürzt werden würden. Vergeblich. „Es war entwürdigend“, kommentiert Sandra Forkert-Hosser, die Rechtsanwältin von Wörz, die Auseinandersetzung mit dem Land. „Ein Opfer wird in die Rolle des Bittstellers gedrängt.“ Von den 450 000 Euro habe Wörz vorsorglich bereits 190 000 an das Finanzamt überwiesen. Die erhaltene Zahlung müsse er voll versteuern, da bleibe nicht mehr viel übrig für den Familienvater, der mittlerweile mit seiner zweiten Frau und der gemeinsamen neunjährigen Tochter ein neues Leben führt. Nach seiner Freilassung hatte er die Einzelhandelskauffrau auf einer Silvesterparty kennen- und lieben gelernt.

Ein Justizirrtum lässt sich nicht durch Geld wiedergutmachen. Er würde auf alles verzichten, wenn er seine Gesundheit wieder erhielte, sagt Wörz. Er habe Angstzustände, leide unter Depressionen, gehe einmal die Woche zur Psychotherapeutin. Sich für eine längere Zeit zu konzentrieren, fällt Wörz schwer. Er ist berufsunfähig – zumindest zurzeit. Vielleicht könne er in einer Weile wieder arbeiten, hofft er. „Irgendwann muss es wieder gehen.“

Am meisten treibt ihn um, dass der Mann, den er für den Täter hält, immer noch frei herumläuft. Nach Wörz’ Freispruch haben die Behörden die Ermittlungen gegen den damaligen Liebhaber von Andrea Z. aufgenommen, auch er ist Polizist. Für drei Jahre wurde er vom Dienst suspendiert, es wurden Zeugen erneut gehört, Spuren untersucht, die alten Akten aus den Archiven wieder geöffnet. 2013 wurden die Ermittlungen gegen den Verdächtigten eingestellt. „Ich habe damals Beschwerde eingereicht“, sagt Wörz, „gebracht hat das aber nichts.“

Harry Wörz klappt den Jeans-Ordner im Tagungsraum zu. Er will sich noch mit seiner Anwältin beraten. „Es ist eine unendliche Geschichte“, sagt er. „Es wäre schön, wenn ich sie abschließen könnte.“