Szene aus „H.E.I.D.I“ nach Motiven des Kinderbuchklassikers von Johanna Spyri Foto: Tobias Metz

Das Theaterstück „H.E.I.D.I“, nach Motiven des Kinderbuchklassikers von Johanna Spyri, ist derzeit im Jungen Ensemble Stuttgart zu sehen.

Das Geräusch von Düsenjets dröhnt über die karg ausgestattete Spielstätte, die Aufschrift FRA legt den Ort der Handlung fest. Blinkende Warnlampen künden von einer außergewöhnlichen Ankunft, im Bühnenhintergrund platzieren sich die Protagonisten – Heidi kommt!

Nicht irgendein allein reisendes Scheidungskind fliegt am Airport Frankfurt ein. Nein, Heidi kommt. Das Heidi. Freundin soll es werden von Klara, der traumatisierten und mental vernachlässigten Tochter eines erfolgreichen Unternehmers. Bitterböse Kommentare ins Publikum schleudernd („Ich will keine Freundin, ich will Papa“), fegt Prisca Maier als Klara im Rollstuhl über die Bühne.

Und Tempo haben hier alle: Bürostühle und Tische auf Rollen dienen der schnellen Fortbewegung, Metropolenatmosphäre verwandelt sich durch eilig an Schnüren gezogene Textillandschaften aus dem Bühnenboden in eine archaische Bergwelt (Bühne und Kostüme: Andreas Wilkens). Dort, in einem Dörfli unter dem Rotspitz, ist Heidis Zuhause – beim Alp-Öhi, dem Geissenpeter und dessen Ziegen. „Das muss besser werden“: An dieser Leitmelodie der Großstadt zerbricht das Heidi fast.

Dramaturgische Sprengkraft bis in die Gegenwart

Im 1880 erschienenen Kinderbuchklassiker „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ von Johanna Spyri verbirgt sich dramaturgische Sprengkraft bis in die Gegenwart. Diskussionen zum Thema Fremde und Heimat sind Alltag in Europa. „H.E.I.D.I. – Heimat entsteht in deinem Innern“, vom Jungen Ensemble Stuttgart (Jes) für Zuschauer ab 8 Jahren empfohlen, verzichtet darauf, tagespolitische Aktualität zu implantieren.

Es beschränkt sich auf die psychologische Brisanz, die in den Begriffen „Anderssein“, „Fremdheit“ und „Heimat“ enthalten ist.

Die von Regisseur Klaus Hemmerle gewollten Brüche funktionieren. Heidi wird hier zu einem Wesen von so fremder Art, dass es einige Spielsequenzen braucht, um sich von gesetzten Sichtweisen zu verabschieden.

„Jetzt bin ich acht“, verkündet Sabine Zeininger als Heidi ganz unbefangen, als sie von der gestylten und auf Erfolg ausgerichteten neuen „Familie“ nach ihrem Alter gefragt wird. Mit ausgefranstem Hut über gewollt naiv blickendem Gesicht, Ökokleidchen über angemollten Hüften, Kniestrümpfen mit Bommeln und Strohschuhen an den Füßen ist das „Kind“ nimmermehr acht.

Sehnsucht nach Geborgenheit, Freiheit und Heimat

Aber Sabine Zeininger überzeugt in der Typologie der Figur „fremdes Kind“, dass aus dieser irritierenden Anziehung zusätzlich Dynamik ins Spiel kommt.

Die mutterlose Klara und die mutterlose Heidi nähern sich in Sympathie, woran auch die Bosheit des Fräulein Rottenmeier nichts ändert. Hemmerle hat die gouvernantenhafte Rolle der Privatlehrerin mit Gerd Ritter besetzt. Ritter, in wunderbar musikalischen Sequenzen des Ensembles mit glasklaren alpenländischen A-cappella-Harmonien am Kontrabass spielend, widersteht dem Versuch, aus der verdrehten Geschlechtlichkeit publikumswirksame Boni zu ziehen.

Feine Fäden gegenseitiger Annäherung durchweben bald auch die Beziehungen der übrigen Figuren. Sehnsucht nach Geborgenheit, Freiheit und Heimat bei sich selbst und im anderen – das Premierenpublikum hat das Spiel und den tiefen Ernst dahinter verstanden und jubelt.

Nochmals 20.–22. April, 10., 11., 26. und 26. Juni. Karten unter: 07 11 / 21 84 80  - 18