Beim Jugendkongress Mygrantulations haben sich 200 junge Menschen ausgetauscht Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wann ist man türkisch, wann deutsch? Beim Jugendkongress der türkischen Gemeinde Baden-Württemberg tauschten sich jugendliche unter anderem über Diskriminierung aus.

Stuttgart - Gemurmel erfüllt das weiträumige Atrium des SpOrt in Bad Cannstatt. Ein Dutzend Tische steht im Raum.Um jeden hat sich eine Gruppe von Jugendlichen geschart. Themen wie Diskriminierung, Identität, Religion oder Engagement werden diskutiert. „Ich bin überrascht, wie konzentriert schon den ganzen Vormittag gearbeitet wird“, freut sich Gökay Sofuoglu. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg, die den Kongress am Samstag gemeinsam mit der Jugendorganisation der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Young Voice, organisiert hat, sieht Mygrantulations als Zeichen, dass viele junge Menschen mit Migrationshintergrund die Zukunft Deutschlands mitgestalten möchten.

Im Grunde könnte es so einfach sein: Man müsste nur aufhören, Menschen erst als Türken oder Muslime und dann erst als Individuen zu sehen. Mit Vorurteilen aufzuräumen ist allerdings nicht so leicht. Sie gehören als Werkzeug der Abgrenzung von sozialen Gemeinschaften gegenüber den Anderen seit jeher zum historischen Erbe. Damit ein Vorurteil nicht in Diskriminierung umschlägt, ist ein hohes Maß an kritischer Selbsthinterfragung notwendig. „Ich glaube, manches ist gar nicht böse gemeint“, merkt eine Teilnehmerin an. Trotzdem ist sie genervt, wie häufig im Fernsehen das Klischee vom türkischen Gemüsehändler oder Dönermann bedient wird. Das Problem heißt Schubladendenken. Die Gruppe „Engagement“ formuliert einen Gegenentwurf: Die Gesellschaft solle eher wie ein Schrank ohne Türen sein.

Wann ist man türkisch, wann ist man deutsch? Für viele der rund 200 jungen Leute, die teilweise eigens aus anderen Bundesländern angereist sind, ist das gar keine Frage. Auch die Wahl der Alltagssprache löst sich ganz pragmatisch von selbst: „Meine Mutter kann nicht so gut Deutsch“, überlegt die 16-Jährige Bulut Nagihan, „also spreche ich viel Türkisch mit ihr. Dafür spreche ich mit meinen Geschwistern Deutsch. Oft vermischt sich das auch, während man sich unterhält.“ Es sei unmöglich, sich für eine Variante zu entscheiden. „Deutsch oder Türkisch, das kann ich nicht trennen. Ich lebe in beiden Kulturen. Ich gehe in Stammheim in die Moschee, aber ich träume auf Deutsch.“ Auch der Glaube wird thematisiert. Ob Religion ein wichtiger persönlicher Kompass ist, wie Mohammed in seiner Runde vorschlägt, oder der von Emmre postulierte „alte Geist, der noch verweilt“, wird offen diskutiert. Auf hohem Niveau. „Wer sagt, dass er an nichts glaubt, glaubt meistens auch an etwas“, wirft Mustafa ein, „an das Schicksal oder an sich selbst.“

„In der Türkei sieht man Türken aus Deutschland als Deutsche. In Deutschland sind sie immer die Türken“, sagt Isaac Gonzales. Der 42-Jährige, der in Böblingen an einem Wirtschaftsgymnasium unterrichtet, wurde in Barcelona geboren. Nachdenklich merkt er an, Türken würden in Deutschland immer noch anders gesehen als Spanier. Es gebe eine erste und zweite Liga für Ausländer. Dabei zeige Mygrantulations, wie sehr sie in der Gesellschaft angekommen seien.

Das unterstreicht auch der Besuch von Cem Özdemir am späten Nachmittag. Der Bundesvorsitzende der Grünen und Vertreter anderer Parteien nutzen die Gelegenheit, mit den Jugendlichen zu sprechen, ehe die Diskussionsergebnisse präsentiert werden. Fünf Minuten hat jede Gruppe. Es läuft wie am Schnürchen. „Davon können die Politiker noch lernen“, merkt Gökay Sofuoglu schmunzelnd an. „Die haben es ja nicht immer so mit der Redezeit.“ Eine Aussage bringt das Anliegen aller Kongressteilnehmer besonders gut auf den Punkt: „Wir wollen eine offene Gesellschaft schaffen und selbst offen sein.“