Titelblatt des Protokolls zur ersten Konferenz der Überlebenden in Bergen-Belsen im September 1945 Foto: Museum

Die Geschichte der industriellen Menschenvernichtung durch Hitler-Deutschland ist weitgehend erforscht. Aber wie erlebte der „gerettete Rest“ der europäischen Juden die Monate nach der Kapitulation des Reiches am 8. Mai 1945? Das Jüdische Museum in Berlin versucht eine Annäherung.

Berlin - „Undser Schtime – Unsere Stimme“: Die erste Ausgabe der Lagerzeitung nach der Befreiung der Häftlinge aus dem Konzentrationslager von Bergen-Belsen erschien am 12. Juli 1945. Wie die nachfolgenden drei Ausgaben wurde die Publikation handschriftlich in Jiddisch auf Matritzen geschrieben. Nummer 9 zeigt als Titelblatt eine kolorierte grafische Illustration zum 1. Jahrestag der Befreiung durch die britischen Streitkräfte. Dieses Exemplar von „Undser Schtime“ ist derzeit in einer Kabinett-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin zu sehen. Die Präsentation mit dem Titel „Im fremden Land“, eine Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin, zeigt in Vitrinen rare Publikationen aus den jüdischen Lagern für Displaced Persons.

Unter den Rubriken „Der gerettete Rest“, „Von der letzten Zerstörung“, „Ausbildung und Auswanderung“ und „Religion und Tradition“ werden persönliche Notizbücher, Satiren, Gedichtbände, religiöse und liturgische Unterweisungen, Liederbücher, Erinnerungen, Sprachlehrbücher und Vorträge präsentiert. Bescheiden produzierte Exemplare, die berührende Eindrücke vom Leben der „Sche’erit Hapleta“, dem von der Ausrottung geretteten Rest, einem bisher eher unbekannten Kapitel jüdischen Lebens, geben.

Bis zu geschätzte acht Millionen Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Mitglieder der Wehrmacht waren nach dem Einmarsch der Alliierten als so genannte Displaced Persons in Deutschland, Österreich und Italien in Lagern untergebracht. Auf Anordnung des US-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman wurden für die etwa 250 000 Juden eigene Camps eingerichtet. Opfern sei es nicht zuzumuten, Tätern, zum Beispiel Angehörigen der Wehrmacht, die sich freiwillig gemeldet hatten, nach dem Ende der Shoa im gleichen Lebensumfeld zu begegnen.

Erst die Staatsgründung Israels beendet den unfreiwilligen Transit-Aufenthalt

Auch in Stuttgart fanden im Jahr 1946 etwa 1200 Überlebende von Konzentrationslagern und jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa Unterkunft. Außer im Stuttgarter Westen waren sie in Wohnblöcken in der Oberen Reinsburgstraße und in Stuttgart-Degerloch in der Jahnstraße untergebracht. Ausnahmslos waren jüdische Camps durch eine Selbstverwaltung geführt. Schulen wurden gegründet, Gottesdienste gefeiert, Hochzeiten unter der Chuppa gefeiert, Kinder geboren (in den Jahren 1946-1948 mehr als in jeder anderen jüdischen Gemeinschaft weltweit). Fußballmannschaften traten im Wettkampf gegeneinander an, Institutionen kümmerten sich die Auswanderung. Unterstützt wurden die Äußerungen dieses enormen Überlebenswillens von ausländischen jüdischen Hilfsorganisationen. Erst die Staatsgründung Israels und die Lockerung der bis dahin regiden Immigrationsbestimmungen für die USA machten dem unfreiwilligen Transit-Aufenthalt der Flüchtlinge in den jüdischen DP-Lagern ein Ende. Bis Ende der vierziger Jahre konnten alle Einrichtungen geschlossen werden.

Schon von Herbst 1945 an – die Versorgungssituation in den DP-Lagern begann sich zu stabilisieren – entwickelte sich eine jüdische DR-Presse. Hebräische Lettern waren im „judenrein“ gesäuberten Deutschland schwer zu beschaffen – also wurden jüdische Zeitungen in lateinischer Schrift gesetzt oder mit Hand geschrieben, so wie auch die ersten vier Ausgaben von „Undser Schtime“ in Bergen-Belsen.

Der Historiker und Publizist Israel Kaplan (1902-2003) hatte schon während seiner Odyssee durch drei Ghettos und vier Konzentrationslager begonnen, Codewörter, Losungen und Redensarten zu sammeln, mit denen sich Ghettobewohner und KZ-Inhaftierte verständigten. In der von ihm herausgegebenen und in hebräischen Lettern gesetzten Zeitschrift „Fun letzn Churbn – Von der letzten Vernichtung“ stellte der Historiker und Publizist eine erste Auswahl der Öffentlichkeit vor. Kaplan forderte die Bewohner der Lager immer wieder auf, sich zu erinnern. In den DP’s liege „die Geschichte auf der Zungenspitze“, mahnte Kaplan.