Robert Tetzlaff (Mitte) erzählt von einem bisher erfolgreich verschwiegenen Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Foto: Georg Linsenmannn

Ein Stadtspaziergang erinnert an jüdische „Displaced Persons“ im Stuttgarter Westen. Robert Tetzlaff erinnert an diese verdrängte Zeit.

S-West -

Gegen das Vergessen“ ist laut Robert Tetzlaff das Generalmotiv der Aktivitäten von „Buch & Plakat – Antiquariat“, auch bei den Stadtspaziergängen der nurmehr online präsenten Buchhandlung aus dem Bohnenviertel. Dass dafür das zu Erinnernde aber erst ins Bewusstsein gehoben werden muss, zeigte sich nun beim Thema „Jüdische Displaced Persons im Stuttgarter Westen“. Er selbst, so Tetzlaff, habe lange nichts von diesem offiziell erfolgreich verschwiegenen Kapitel Nachkriegsgeschichte gewusst, obwohl er im Westen der Stadt gelebt hatte. Schon gar nicht von einem bis heute ungeklärten Todesschuss auf einen Auschwitz-Überlebenden. So entwickelte sich der Rundgang zu zwei intensiven Stunden „Nachhilfeunterricht“ in Sachen Geschichte am Originalschauplatz, in der oberen Reinsburgstraße.

Um dem finalen Geschehen eine gewisse Logik zu geben, legte Tetzlaff von Beginn an Nachdruck auf zwei Faktoren: Antisemitismus und Verdrängung. „Württemberg war zwar relativ liberal, pflegte aber auch einen religiös motivierten Anti-Judaismus“, stellte Tetzlaff fest. Spät erst, im Jahr 1862, sei die rechtliche Gleichstellung der Juden erfolgt, und in der Weimarer Republik habe „Stuttgart neben München die zweitgrößte NSDAP-Fraktion“ gehabt. Er ergänzte: „Was die Nazis zwölf Jahre lang offen getönt hatten, dass Juden Untermenschen seien, das durfte mit Kriegsende nicht mehr laut gesagt werden, war aber immer noch drin in den Köpfen. Das Kriegsende wurde nicht als Befreiung begriffen, sondern als totale Niederlage. Entsprechend groß war die Begeisterung, dass hier nun Juden untergebracht werden sollten.“

Hier lebten zeitweise bis zu 1700 Nazi-Opfer

Der Hintergrund: Mit Kriegsende stellte sich die Frage, wohin mit den Tausenden aus den Konzentrationslagern befreiten Menschen? Die von den Besatzungsmächten beschlossene Rückführung in die angestammten Siedlungsräume etwa in Polen funktionierte nicht, weshalb eine ortsnahe Unterbringung der verschleppten „Deplatzierten“ erfolgte, von den Amerikaner „Displaced Persons“ genannt. So kam es ab August 1945 zur Beschlagnahmung von Wohngebäuden in der heutigen Jahnstraße, wo zu Beginn etwa 300 Juden aus dem KZ in Vaihingen/Enz untergebracht wurden. Mit Belegung des komplett beschlagnahmten, unzerstörten oberen Teils der Reinsburgstraße lebten hier zeitweise bis zu 1700 Nazi-Opfer: „Von der Stadtverwaltung formal akzeptiert, aber unter der Decke mit unzähligen Eingaben bombardiert“, stellte Tetzlaff fest.

Die Stimmung in der Bevölkerung: „Uns geht es schlecht, die werden verhätschelt.“ Volkes Stimme sei von der „nur in den Abteilungsspitzen entnazifizierten Verwaltung gerne aufgegriffen“ worden. Angesichts des Schwarzhandels, der sich in den Ruinen des Westbahnhofes entwickelte, habe die Verwaltung die US-Behörden zu einer Razzia in der Reinsburgstraße gedrängt, „durchgeführt von der deutschen Polizei“. Diese umstellte am 29. März das Areal, laut Tetzlaff „um 4 Uhr morgens mit 150 Mann – mit Waffen der Amerikaner ausgerüstet“, und forderte die Bewohner zum Verlassen der Häuser auf. Die weigerten sich. Es fielen Schüsse, und ein Mann lag auf der Straße, von einem Kopfschuss tödlich getroffen: Samuel Danziger. Der Familienvater, der die Vernichtungslager Majdanek und Auschwitz sowie den Todesmarsch nach Mauthausen überlebt hatte, war am Vorabend eingetroffen: bei seiner Frau und den beiden Töchtern, von denen er vier Jahre getrennt war, von deren Verbleib er in Paris erfahren hatte – ein Tod, der nie aufgeklärt wurde: „Die Berichte strotzen vom Unverständnis der beteiligten Polizisten, dass einer deutschen Polizei nicht sofort gehorcht wird“, berichtete Tetzlaff.

In der Straße aber gibt es nichts, was Erinnerung wecken könnte

„Das ist nicht zu fassen, das hält man nicht aus“, bekannte eine 79-Jährige aus Neugereut direkt und fügte hinzu: „Wir haben allen Grund, uns zu erinnern.“ In der Straße aber gibt es nichts, was Erinnerung wecken könnte. Nicht die kleinste Tafel. Nicht zu den „Displaced Persons“, nicht zu Samuel Danziger.