Jossi Wieler, Intendant der Staatsoper Stuttgart Foto: Schaefer/Oper

Jossi Wieler, Intendant der Stuttgarter Staatsoper, zieht Halbzeitbilanz: Im Interview spricht er über das Profil der Oper Stuttgart, aufgeklärtes Musiktheater und Teamwork.

Stuttgart - Herr Wieler, zurzeit ist das Ende Ihrer Amtszeit auf 2018 datiert . . .
Zurzeit ja.
. . . dann wären wir jetzt genau in der Halbzeit Ihrer Intendanz und hätten einen guten Anlass, zurück und auch nach vorne zu blicken. Was wollen Sie anpacken?
Ein Thema ist sicherlich die Öffnung zu den anderen Sparten hin. Nach dreieinhalb Jahren als Stuttgarter Opernintendant kann ich sagen, dass wir alle – Schauspiel, Ballett und Oper – wissen, was wir aneinander haben, und wir das gemeinsame Potenzial kennen, das wir sicherlich auch noch nutzen werden.
Gibt es eine konkrete Kooperationsidee mit Schauspiel und Ballett?
Ja, nicht nur eine. Die Planungen hierfür werden immer konkreter.
Könnten Sie sich vorstellen zu verlängern?
Vorstellen kann ich es mir, aber es ist zunächst einmal Sache des Ministeriums, sich dazu zu äußern.
Vermissen Sie das Inszenieren im Schauspiel?
Schon. Dass ich zurzeit ausschließlich hier in der Oper Stuttgart inszeniere, hatte ich so angekündigt und habe das auch eingehalten – bis auf Wiederaufnahmen älterer Produktionen an anderen Häusern, die dann aber vor allem Sergio Morabito betreut hat. Mit zwei Inszenierungen im Jahr im eigenen Haus fühle ich mich neben der Intendanz für eine bestimmte Zeitspanne gut ausgelastet.
Wie bestimmt ist diese Zeitspanne?
Zunächst einmal geht es um die nächsten Jahre meiner Intendanz. Ein Repertoire mit vielen Wieler/Morabito-Inszenierungen ist stark prägend für das Haus. Ich denke, dass das an anderen Häusern mit inszenierenden Intendanten ähnlich ist. Es ist die natürliche Konsequenz eines solchen Konzepts.
Seit dieser Saison hat die Oper Stuttgart keine Hausregisseurin mehr. Wollen Sie wieder jemanden fest ans Haus binden wie Andrea Moses oder mit wechselnden Regisseuren arbeiten?
Wir werden pro Spielzeit drei Gastregisseure hier haben. Zu Beginn meiner Intendanz war ich der festen Überzeugung, dass es nur zwei starke Regie-Handschriften an der Oper Stuttgart geben sollte. Sie sollten dem Haus eine eigene Identität geben, eine starke Gegenposition gegen die Beliebigkeit des internationalen Regie-Karussells formulieren und den Musiktheater-Betrieb ein wenig entschleunigen. Ich habe da aber zu stark vom Schauspiel aus gedacht. Dort gibt es ja viel mehr Premieren, und die Gewichtung von festen Regisseuren ist deshalb eine ganz andere als bei einem Opernhaus mit nur fünf Premieren pro Saison.
Es geht also auch darum, das allzu Einförmige zu vermeiden?
Sagen wir es so: Als Andrea Breth jetzt „Jakob Lenz“ bei uns inszenierte, hat eine Handschrift, die von außen kam, sowohl die künstlerische als auch die technische und organisatorische Seite des Hauses ganz neu gefordert. Das hält anders wach, man bleibt auf besondere Weise kreativ, und das ist wichtig für die Oper Stuttgart.
Hat es auch eine Rolle gespielt, dass Andrea Moses’ Inszenierungen nicht so positiv aufgenommen wurden, wie Sie gehofft hatten?
Nein, zumal die Publikumsresonanz ja durchaus positiv war. Aber, wie schon gesagt, entscheidend war für mich die Neuausrichtung hin zu einer größeren Öffnung bei der Vielfalt der Regie-Handschriften.
Nach welchen Kriterien wählen Sie die Regisseure aus, die Sie einladen?
Sie müssen mich künstlerisch ebenso überzeugen wie in ihrer Bereitschaft, sich einzulassen auf unser Ensemble und die besonderen Möglichkeiten der Oper Stuttgart: also etwa auf eine intensive siebenwöchige Probenzeit und darauf, dass Dirigenten bei uns die Neuproduktionen von Anfang an begleiten. Sie sollen unsere Idee eines Musiktheaters als kollektive Kunstform mittragen.
Man hat Ihnen vorgeworfen, zu wenige Stücke im Repertoire zu haben – zum Beispiel im Vergleich zur Bayerischen Staatsoper, die pro Saison etwa 40 Stücke auf dem Spielplan hat. In Stuttgart sind es nur etwa halb so viele.
Das lässt sich nicht vergleichen. Unser System ist ein anderes. Und es gibt in unserem über 100 Jahre alten Haus zu viele baulich bedingte Einschränkungen, mit denen andere Häuser dieser Größe nicht umzugehen haben.
Sie bezahlen für die Sorgfalt, die Sie auch auf die Pflege des Repertoires verwenden, mit einem streckenweise einförmigen Spielplan.
Das finde ich gar nicht. Eine höhere Anzahl unterschiedlicher Vorstellungen ist aus technischen Gründen nicht möglich. Darüber hinaus möchten wir für jede Premiere, jede Wiederaufnahme und das Repertoire genügend Probenzeit gewährleisten, um unserem hohen künstlerischen Anspruch an die Aufführungen auf allen Ebenen gerecht werden zu können.
Nach welchen Kriterien wählen Sie Stücke aus?
Das geht vom Lustprinzip bis zur Pragmatik und ist geleitet von der Hoffnung, unser Publikum zu begeistern. Aktuell versuchen wir das mit einer Wiederentdeckung, Niccolò Jommellis „Berenike, Königin von Armenien (Il Vologeso)“. Auf diese Oper wäre ich selbst nie gekommen, und ich bin Sergio Morabito unendlich dankbar, dass er auf diesem wundervollen Stück bestanden hat.
Warum kennt keiner „Berenike“?
Das frage ich mich auch. Das Libretto, das um 1700 entstanden ist, wurde von sehr vielen Komponisten vertont, und es ist so stimmig und so zeitlos wie ein Stück von Corneille oder Racine. Die Musik horcht, wie oft bei der Opera seria, sehr tief in das Innenleben der Figuren hinein, aber bei Jommelli gibt es Rezitative, die schon einen Schritt über Händel hinausgehen und sich dem Zeitalter der Empfindsamkeit nähern.
Und die Geschichte selbst?
Die ist ausgesprochen spannend. Da herrscht ein römischer Zweitkaiser in Ephesos, der sich in die Königin von Armenien verliebt. Die wiederum meint, ihr Verlobter, der König der Parther, sei tot, der aber lebt noch, hat sich undercover eingeschlichen, plant einen Mordanschlag, und es ergeben sich zahlreiche Verwicklungen. An manchen Stellen wirkt das ein bisschen wie eine Soap Opera, aber dieser Gattungsbegriff wäre doch zu billig. Dann wieder fühlt man sich wie in einem Krimi ohne Leiche, und zwischen den Figuren entwickelt sich ein dichtes Netz von Beziehungen und Doppelbödigkeiten. Ich komme jeden Tag beglückt aus den Proben zurück.
Also zählt Jommelli aus Ihrer Sicht nicht zu jenen Kleinmeistern, deren Werke nur durch gute Interpretationen lebendig werden?
Nein – auch wenn wir natürlich sehr hoffen, dass unsere Interpretation stimmig ist! Vor zwölf Jahren haben wir von einem Zeitgenossen Jommellis, Vicente Martín y Soler, „Una cosa rara“ inszeniert, und da würde ich im Nachhinein sagen: Das war ein spannendes Libretto von Lorenzo da Ponte, eine tolle Geschichte, schöne, reiche Figuren, aber die Musik hat das nicht immer getragen. Jetzt bei Jommelli tut sie es aber – unbedingt! Und die Sänger sind alle zusammen eine wunderbare Crew: Ana Durlovski, Sophie Marilley, Helene Schneiderman, Catriona Smith, Igor Durlovski und Sebastian Kohlhepp, ein toller Künstler, der ab der nächsten Saison fest im Ensemble sein wird.
Wofür soll die Stuttgarter Oper stehen?
Für ein aufgeklärtes Musiktheater, in dem Künstler auf der Bühne agieren, die eigenverantwortlich eine Produktion mittragen. Das soll zu einem Standard werden, der wahrgenommen werden möge, weil er in dieser Form und auf diesem Niveau einzigartig ist. Die Stuttgarter Oper soll ein Haus sein, an dem sich Musiktheater aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte definiert: Solistinnen und Solisten, Chor, Orchester, Dramaturgie, Bühnentechnik, Beleuchtung und Werkstätten. Auch unsere Assistenten suchen wir sehr bewusst aus: Sie sollen diesen Geist an die Orte weitertragen, an denen sie später einmal arbeiten. Das ist mein großer Wunsch: dass von Stuttgart eine sinngebende Energie für das Musiktheater ausgeht.
Wie würde dann der Zuschauer im optimalen Fall das Opernhaus verlassen?
Berührt und nachdenklich, im besten Falle auch begeistert – jedenfalls mit einem besonderen Erlebnis, das noch möglichst lange in ihm nachschwingen und nachwirken mag. Mit Fragen an das Werk und vielleicht mit dem Wunsch, das Stück noch einmal erleben zu wollen, um sich weitere Facetten und Details zu erschließen im Sinne einer Vertiefung. Uns geht es nicht um das Dekorative. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist unsere Produktion „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss: Der Verlag hat uns großes Vertrauen entgegengebracht, als wir darum baten, das Vorspiel ans Ende stellen zu dürfen. Ich habe das als Privileg und als außergewöhnliches Zeichen der Anerkennung empfunden. Den aufklärerischen Standard und das künstlerische Niveau, die dafür die Voraussetzung waren, sollten wir als Maßstab für uns selbst betrachten und unbedingt bewahren.