Die Fans des FC St. Pauli sind etwas ganz besonderes Foto: dapd

Ein Fußballausflug von Stuttgart nach St. Pauli ­bestätigt Altbekanntes, bringt aber auch allerhand neue Erkenntnisse. Eine Kolumne von Joe Bauer.

Hamburg - Am Tag nach dem Spiel, das ist Fakt, regnet es in Hamburg, allerdings am Morgen noch nicht so wild, wie man sich gemeinhin einen Hamburger Regen vorstellt. Ich spaziere eine Weile an der Alster entlang und versuche, ein paar Gedanken aus dem Trüben zu fischen. Man muss heute ja fürchten, Gedanken seien ein schweres Delikt, seit alle Welt wie besessen nur noch „Fakten“ fordert.

Tags zuvor hat die Videowand beim Spiel des FC St. Pauli gegen den VfB im ausverkauften Stadion am Millerntor „19,10 Mio. Zuschauer“ angezeigt. Rein faktisch gesehen ist das leicht übertrieben, weil es eher 29 546 sind (ich habe nicht nachgezählt). Wahr ist jedenfalls, dass der US-Präsident seinen Hamburg-Besuch beim G-20-Gipfel im Juli angekündigt hat – und der FC St. Pauli mit seiner Zuschauerzahl schon mal auf Trumps „alternative Fakten“ anspielt.

Bekanntlich läuft auf St. Pauli nicht nur alles seit jeher etwas anders, sondern zurzeit auch reichlich schlechter als bei der Konkurrenz. Der legendäre Verein ist Tabellenletzter der zweiten Liga, und man kann nur staunen, wie die Fans trotz alledem ihr Team anfeuern. Als seien Pfiffe die uncoolen Sounds von gestern. Vielleicht hat diese Art Party damit zu tun, dass Hamburgs Kiez-Club zur Stimmungsmache auf den Rängen die Stimme einer Frau gewählt hat. Verglichen mit den Macho-Schreihälsen an anderen Mikrofonen, klingt die Stadionsprecherin Dagmar Hansen so entspannt, als ginge es um ein Spiel – und nicht etwa um Fußball.

Der Verein hat existenzielle Bedeutung im Leben des Fans

Als ich im ICE von Stuttgart nach Hamburg fahre, sitzen in unserem Abteil einige VfB-Fans. Sie trinken Bier, und als sie ein bisschen mehr getrunken haben, beschallen sie den Bahnwaggon mit einer Musik, die nicht jeder als Musik definieren würde. Ich schaue und höre zu und sehe glückliche Gesichter wie von Menschen, die sich sicher sind, Gutes zu tun. Diese Fans sind auf einer Mission, die man als Außenstehender kaum verstehen kann. Wenn sie ihre Zugnachbarn mit ihren Songs bespielen, sind sie ihrer Sache vermutlich so sicher wie die Sorte Eltern, die nie auf die Idee käme, ihre kreischenden und herumtollenden Kinder könnten jemanden stören. Wie auch: Mit ihren Kindern haben sie etwas geschaffen für den Fortbestand dieser Welt, das nicht Rüge, sondern Anteilnahme verdient. Fans auf Mission denken womöglich ähnlich: Sie setzen sich ein für eine Sache, die sie zumindest mit geformt haben. Diese Sache heißt „unser Verein“ – und niemand da draußen wird verstehen, was das ist. Der Verein hat existenzielle Bedeutung im Leben des Fans – und damit Anspruch auf Anteilnahme und Respekt.

Leider gibt es im alltäglichen Medienbetrieb eher selten Anstrengungen, den Fans ein Gesicht zu geben – sicher weit weniger, als „die Presse“ versucht, ihrer Klientel Außenseiter und Fremde näherzubringen. Die wenigsten Leute bekommen mit, was Fans die Woche über machen, woran sie arbeiten, was es bedeutet, die Choreos – die Rituale zur Unterstützung der Mannschaft – zu entwerfen, zu üben und zu realisieren.

Eine Subkultur mit eigenen Regeln

Ein Teil der Fans, die für ein oft quälend lausiges Spiel Strecken wie Stuttgart–Hamburg zurücklegen, gehört zu einer Subkultur mit eigenen Regeln. Es wäre vermessen, darüber zu urteilen. Die meisten Medienleute genießen bei wahren Ultras meist so wenig Vertrauen wie Polizisten oder Fanforscher von der Uni – eine in meinen Augen notwendige Haltung, um eine Subkultur zu schützen.

Für den Außenstehenden ist es deshalb kaum zu beurteilen, welche Rituale noch von den Ultras selbst oder bereits aus der Marketingabteilung stammen. Und manchmal ist es mir auch wurscht. Ich finde es durchaus originell, wenn St. Pauli auf Plakaten einen zerbeulten, noch qualmenden Daimler-Oldtimer mit weiß-roter Fahne abbildet, um den Klassenkampf auszurufen. Die Fans desselben Totenkopf-Clubs entrollen zwei Tage nach dem Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz in der Halbzeitpause ein riesiges Banner, das in die Gegenwart und auf den AfD-Extremisten Höcke zielt: „Die größte Schande ist das Vergessen.“

In meiner kleinen Gedankenwelt sind solche Fußballbotschaften im Kampf gegen rechte und rassistische Gesinnungen wichtiger als jedes Spiel. Zu den Fakten zählt dagegen, dass der VfB gegen den FC St. Pauli 1:0 gewonnen hat – wenn ich hinzufüge, mit reichlich Dusel, dann äußere ich damit nur meine alternativlose Meinung.