Lichtblick im Bahnhofsviertel: Schankstelle, Jägerstraße Foto: Piechowski

Joe Bauer über "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man es an dem Halmen zeiht"

Seltsam, wenn die Leute sagen, die Zeit sei stehen geblieben. Es ist der Mensch, der stehen bleibt. Die Zeit schreitet fort, der Mensch lallt sterbend noch: Fortschritt.

In der Bahnhofsgegend hat ein Wettlauf gegen die Zeit begonnen, das große Stühlerücken und Magendrücken. Die Mieter, die sich auf Zeit in der ehemaligen Bahnhofsdirektion eingenistet haben, müssen bis zum 30. Dezember ihre Gemächer verlassen. Danach steigen die S-21-Raketen.

Deas gegenteilige Geschäftsmodell der Toilette

Wie zum Trotz hat in dieser Gegend, in der unbekannten Jägerstraße in der Nähe der noch unbekannteren Ossietzkystraße, eine neue Kneipe eröffnet. Das Lokal, es liegt leicht versteckt, trägt einen fantasievollen Namen, einen, der gleichziehen kann mit meinen Stuttgarter Lieblingskneipennamen. Dazu gehören die ehemalige Radio-Bar am Rotebühlplatz im noch ehemaligeren Radio-Barth oder der zum Glück noch lebendige Palast der Republik in einem ehemaligen Toilettenhaus, Bolzstraße.

Der neue Laden in der Jägerstraße eröffnet einem exakt das gegenteilige Geschäftsmodell der Toilette. Er heißt "Schankstelle Super" (oder auch Superschanke oder so ähnlich) . Die Außendesigner haben Flüssigkeitsbehälter aus Kunststoff zu tempelhaften Mauern aufgetürmt und gut ausgeleuchtet. Im Innern kann man essen, an der Bar stehen und, wenn man Zeit hat, am Wochenende in den Morgen tanzen.

Die Schankstelle in einer ehemaligen Tankstelle hat den Charme des Stammhauses behalten: Mehrzweckhalle für Sprit & Tabak, Meinungsaustausch & Sex. Bei den Super-Nasen handelt es sich um erfahrene, mit allen Weihwassern gewaschene Gastwirte. Einst haben sie in frühurbanen Häusern wie Das Unbekannte Tier und Bravo Charlie Pionierarbeit geleistet. Heute sind sie legendäre Zapf-Säulen. Flaschen stehen in anderen Bars.

Zeit ist etwas Relatives

Es geht eindeutig voran, in diesem Dezember 2011, wo der Euro noch fröhlicher explodiert als der Spritpreis an den Tankstellen, seit das große Spiel an den Selbstbedienungs-Schankstellen der Finanzhaie in Bewegung geraten ist. Als es im Dezember 2011 nach zwei sonnendurchfluteten Monaten, einem Geschenk des großen Lichtgauklers namens Herbst, erstmals wieder zu regnen begann, eilte ich ins nächste Kaufhaus, um mir einen Schirm zu besorgen. Die Kaufhaus-Manager sind nicht mehr so doof wie früher, heute stellen sie ihre Regenschirme an den Eingang, weil sich bei uns im Gegensatz zu anderen kapitalistischen Ländern der fliegende Regenschirm-Händler nie durchgesetzt hat.

Den Schirm fand ich schnell, der Weg zur Kasse dauerte etwas. Eine einsame Dame mühte sich verhalten, die Menschenschlange abzuarbeiten, und mir blieb Zeit für Gedanken. Vor meiner Nase stand eine Frau mit einem Baby im Kinderwagen. Nachdem wir eine Weile zusammen verbracht hatten, kamen wir ins Gespräch.

Zeit sei etwas Relatives, sagte ich. Kaum genieße man die Aussicht, in zwanzig Jahren zwanzig Minuten schneller in Ulm zu sein, büße man die eingesparte Zeit an der Kaufhauskasse ein. Ja, sagte die Frau mit dem Baby, die eine Geschäftsfrau war, manche Leute hätten kein Talent für Tempo. Aber, fügte sie hinzu, das sei nicht weiter schlimm, ihre eigenen Kunden besänftige sie stets mit einem afrikanischen Sprichwort: "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an den Halmen zieht."

Nie zuvor hatte ich diesen wunderbaren Satz gehört. Die Frau und ich freuten uns eine Weile über die Weisheit der Afrikaner und plauderten über die Tücken der Zeit. Das Baby im Kinderwagen war in der Zwischenzeit ein wenig gewachsen, es verlangte nach einem Mobiltelefon, um ein Taxi zu bestellen. Die Kasse war nach wie vor in weiter Ferne, und das Baby gedieh prächtig. Ich sah die Stunde kommen, da mir die Mutter um den Hals fallen und gestehen würde: Jetzt bin ich Großmutter.

Wie gesagt, Zeit ist relativ, und mir gefielen das Warten in der Schlange und die Idee, dass die Geduld schneller wächst, wenn du nicht am Grashalm ziehst.

Die Männer in der Schlange hatten inzwischen Vollbärte, das Baby sagte seiner Mutter, es hätte zu Weihnachten gern eine E-Gitarre und ein iPad, und ich wunderte mich nur, als ich meine Stiefel betrachtete. Die Absätze waren schief. Ich beschloss, ruhiger zu werden im Lauf der Zeit.

Die Zeiten ändern sich

Das Baby fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm in der nächsten Schankstelle einen zur Brust zu nehmen. Das Warten vor der Kaufhauskasse sei voll uncool. No, sagte ich, ich sei ein alter Spießer und hätte Angst, ohne Kassenbeleg einem gottverdammten Kaufhaus-Detektiv in die Arme zu laufen. Kannste vergessen, sagte das Baby, die Schnüffler hat man gleich nach dem Euro-Crash wegrationalisiert. Super, sagte ich, ich gehe schon mal die E-Gitarre und das iPad klauen.

Zu meinem Bedauern war die Mutter des Babys in der Zwischenzeit etwas still geworden. Leicht geschrumpft lag sie im Kinderwagen und bat mich, sie nicht allein zu lassen. Auf keinen Fall, wir sind zusammen alt geworden, sagte ich, während ich mit gichtgekrümmtem Finger auf meine Glatze zeigte: "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an den Halmen zieht."

Die Frau lächelte, und nachdem ich den Kinderwagen mit der Frau über die Kadaver einiger früh verstorbener Pechvögel gewuchtet hatte, standen wir auch schon an der Kasse. Das Baby flüsterte: Die EGitarre und das iPad habe ich unter meinem Lederrock. Okay, Baby, sagte ich und bezahlte zügig drei Millionen D-Mark per Kreditkarte für meinen Regenschirm. Die Zeiten ändern sich, sagte das Skelett an der Kasse.

Als ich mit dem Baby, der Mutter und meinem neuen Regenschirm hinausging auf die Straße, waren wir eine glückliche Familie unterwegs zur nächsten Schankstelle. Es hatte lange nicht geregnet.