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Es gibt Dinge, die kann man mit gutem Gewissen und trotzdem nicht richtig machen.

Stuttgart - Es gibt Dinge, die kann man mit gutem Gewissen und trotzdem nicht richtig machen. Dazu gehören diese Zeilen. Am 20. Juni gab es am Bahnhof Ausschreitungen nach der Kundgebung gegen Stuttgart 21. Es war die 79. Montagsdemo, und es war die erste, die außer Kontrolle geriet. Es kam zu Gewalttaten. Wie immer nach solchen Ereignissen werden die Demonstranten, ihre Sprecher, ihre Sympathisanten aufgefordert, sich zu distanzieren.

Wer Idee, Inhalt und Dramaturgie der Montagskundgebung unterstützt, wird sich problemlos distanzieren, moralisch und strategisch. Die Stärke, die Qualität der Montagsreihe im Protest ist ihre Friedfertigkeit (und Knallkörper, das weiß man vom Fußball, sind Bullshit).

Es bedarf im Nachhinein keines großen Mutes, "Bestürzung" und "Entsetzen" zu äußern. Betroffenheitssätze sind risikolos. Über die Hintergründe der Straftaten kann ich so wenig sagen wie über die irritierenden Vorgänge am 20. Juni. Ich bin kein Augenzeuge der Ausschreitungen - und selbst wenn, wäre ich vorsichtig mit privaten Beobachtungen. Bei der Eskalation am 30. September im Schlossgarten habe ich gelernt: Der Augenzeuge hat einen begrenzten Wahrnehmungsradius. Am 20. Juni war ich beteiligt, habe als Gast auf der Bühne eine Rede gehalten - hätte ich die weitere Entwicklung geahnt, hätte ich das eine oder andere Wort womöglich anders gewählt. Kurzum: Alle wurden überrumpelt.

Im Kopf kein klares Bild

Am Tag danach habe ich privat mit Augenzeugen und Polizisten gesprochen. Seitdem habe ich gehörige Zweifel an den Darstellungen der Medien, der Polizei, aber im Kopf kein klares Bild.

Mich interessiert: Gibt es Möglichkeiten, Gewalt mit Strategien zu verhindern? Die Polizei hat kein Patentrezept. Wie auch. Verschiedene Ereignisse zu verschiedenen Zeiten sind selbst in ähnlicher Atmosphäre am gleichen Ort nicht vergleichbar. Spontane Reaktionen nicht berechenbar.

Die Organisatoren der Demonstration könnten versuchen, eigene Trupps zur Isolierung Radikaler zusammenzustellen. Das wäre kein Spitzel-Prinzip. Es gibt seit Jahrzehnten Beispiele für zivile Trupps, beim Fanproblem im Fußball, beim Schutz von Ausländern. Dieses Vorgehen wäre angesichts der vielen Demos in Stuttgart allerdings extrem aufwendig.

Der schlimmste Fehler in der jetzigen Stimmung sind die Verallgemeinerungen. Die "Süddeutsche" schreibt: "Wenn der Widerstand so aussieht wie zuletzt, wenn er es also knallen lässt und auf einen Polizisten einhaut, dann lebt er auf die falsche Weise." Man hofft, der Kommentator lebt auf die richtige Weise, wenn er diese Binsenweisheit von sich gibt. Wer, bitte, ist "der Widerstand", der einen Polizisten haut?

Ich habe ein Problem mit dem Wort "Widerstand"

Am 20. Juni waren einige Tausend Leute im "Widerstand". Was heißt das? Ich habe ein Problem mit dem Wort "Widerstand". Es ist in Deutschland historisch besetzt. Das Wort "Bewegung" ist mir lieber, obwohl es nicht viel aussagt über die immer wieder neu besetzte Protestversammlung. Woche für Woche wundere ich mich über die Zusammensetzung der Menge - ihre Buntheit wechselt ständig.

Typisches Politikergeschrei sind die Schuldzuweisungen für den 20. Juni. Wenn der Verkehrsminister sagt, die Bahn habe die Ausschreitungen indirekt hervorgerufen, hat das so wenig eine psychologische Basis wie die Behauptung der anderen Seite, für die Vorfälle sei die Rhetorik des Ministers verantwortlich. Dummes Zeug.

Wenn ein kleiner, verdeckter Trupp von Radikalen mit Zangen und Bauschaum zur Demo anrückt, um auf den Putz zu hauen, handelt es sich in aller Regel um Leute, die sich um Politiker und deren Reden einen Dreck scheren. Politiker und ihre Gefolgschaft sollten sich über die sozialen Realitäten ihrer Stadt informieren und nicht die Stadt zum Bestandteil ihrer kleinen Parteienwelt machen. Es ist fahrlässig, über die Motive der Täter zu spekulieren, ohne die Täter zu kennen. Es gibt immer irgendwo eine kleine radikale Gruppe, die für Attacken trainiert ist und Bühnen sucht. Für diese Leute ist S 21 Popelkram. Sie machen ihr eigenes Ding, haben ihr eigenes Weltbild, ihre eigene Vernetzung. Es gibt, nur als Beispiel, junge linke Radikale, die der S-21-Konflikt in der Vergangenheit nicht die Bohne interessiert hat - in ihren Augen waren friedlich demonstrierende Bürger bourgeoise, spießige Langweiler.

Eine Randale ist sekundenschnell angezettelt

Wer also sind die Jungs mit den Zangen?

Eine Randale ist sekundenschnell angezettelt, und gehen erst mal ein paar Professionelle über Grenzen und Bauzäune, verwandelt sich nach den Gesetzen der Gruppendynamik auch Lieschen Müller in die zornige Müllerin. Fragt man Polizisten, wissen sie irre Geschichten über "Dr. Jekyll und Mr. Hyde", und zwar an allen Fronten menschlichen Zusammenseins.

Das Internet für privat verbreitete Katastrophenmeldungen und Hetze, Journalisten, die ihre Kommentare allein auf der Grundlage des Polizeiberichts schreiben, und Politiker, die stets die Schuldigen, aber nicht das urbane Leben kennen, tragen weder zur Aufklärung des Vorfalls noch zur Beruhigung der Stadt bei.

Von der Eskalation des Protests, auch das eine Plattitüde, profitiert nur der Gegner. Das wissen die Protestierenden so gut wie die Profiteure. Provokateure enttarnt und bekämpft man nicht mit Betroffenheitsfloskeln. Dazu brauchen wir Fantasie und Aufklärung. Bevor der Südflügel fällt.