Die neue Bibliothek Foto: Piechowski

Was für ein Stadteroberungsklima in diesem späten Oktober. So lässt es sich leben.

Was für ein Stadteroberungsklima in diesem späten Oktober. So lässt es sich leben.

In der Stadtbibliothek war ich, in Stuttgart, am Mailänder Platz, gleich neben den Pariser Höfen. Die Pariser Höfe als Name für den neuen Wohnungs- und Bürokomplex, das fand ich bei Tests heraus, haben sich in der Bevölkerung noch nicht durchgesetzt, und das Gelände, auf dem die Bücherei steht, ist politisch vermint; man muss vorsichtig sein mit Urteilen.

Der von außen karge, bei Tageslicht graue, in der Nacht blau ausgeleuchtete Würfel gilt vor allem Pro-21-Leuten als architektonisches Zeugnis der "Klarheit". Offenbar war der Würfel auf dem Schlossplatz noch nicht klar genug. In der Stuttgarter Architektur scheint heute zu gelten, was für brave Menschen gilt. Es zählen nur innere Werte (weshalb die Hochkonjunktur bei Modemachern, Nagelstudios und Schönheitschirurgen doch etwas irritiert).

Keine Frage, die Stadtbibliothek zeigt im Innern berauschende, museumshafte Größe. Die "Herz" getaufte Ruhehalle erinnert an die ewige Unantastbarkeit einer Pyramide, einer Kathedrale.

Wer sich dennoch nach dem Sterben sehnt, etwa in der lusttötenden Eingeschlossenheit eines Blechcontainers, der begebe sich in das Max-Bense-Forum, den Veranstaltungsraum der Bücherei. In üblicher Stuttgarter Weltläufigkeit hat man die Bude im Untergeschoss für internationale Besucher als "Showroom" ausgewiesen. Showrooms nennt man weltweit Räume, in denen Firmen ihrer Klientel Autos, Waschmaschinen oder Heizdecken verscherbeln.

Mit ähnlicher Grandezza hat man das Café des Hauses, die LesBar, gestaltet. Es gleicht einer Krankenhauskantine der Vorkriegsära, hat vermutlich aber innere Werte, in der Salatküche oder so. Lesebühne und Cafeteria einer Bibliothek mögen im globalen Stuttgarter Leben zweitrangig sein. Dummerweise aber sind sie oft für den letzten Eindruck verantwortlich, den ein Fremder mit nach Hause nimmt, bevor er sich in die Pariser Höfe einkauft.

Dass es den großen Stuttgarter Würfen oft an Sinnlichkeit fehlt, dass man eine Publikumsmissachtung spürt, hat mit dem Geist der Stadtpolitik zu tun. Die Bibliothek hinter den Bahnhof zu verbannen zielt ja darauf, das S-21-Gelände mangels einer existierenden City zum neuen Stadtzentrum aufzubrezeln, so etwa, als sei wieder eine deutsche Mauer gefallen.

Wenn ich mich mit auswärtigen Stuttgart-Besuchern unterhalte, vermissen sie keine Shopping-Malls, sondern so gut wie immer zwei Dinge: erstens ein funktionierendes Stadtviertel mit dem Eigenleben eines Kiez, zweitens eine zentrale Sammelkneipe, in der ein Universitätsprofessor Gefahr läuft, seinen Studenten zu begegnen.

Dass wir kein "Viertel" haben, ist ein altes Problem. Die Privatversuche, Marktplätze des Zusammenlebens zu schaffen, im Bohnen- oder im Leonhardsviertel, sind gescheitert. Stuttgart hat kein Glockenbachviertel wie München, kein Eimsbüttel wie Hamburg, kein Belgisches Viertel wie Köln. Stuttgart protzt mit Pariser Höfen.

Eine Frage städtischen Bewusstseins ist es, die Markthallensituation eines guten Wirtshauses herzustellen. Zwar sind wir mit Bars, Clubs und Restaurants gut ausgestattet. Das Publikum im Zentrum der Stadt aber selektiert sich. Alt und Jung kommen nicht zusammen, man findet keinen originellen sozialen Mix, keinen Mikrokosmos wie in einem Wiener Kaffeehaus oder einem Münchner Wirtshaus.

Solche Plätze sind zum Glück nicht kopierbar, auch wenn Rathaus-Spießer herumposaunen, Namen wie Mailänder Platz oder Milaneo (für ein Einkaufszentrum) verbreiteten "südländisches Flair". Eine Stadt profiliert sich nicht mit aufgeblasenen Scheinwelten, sie muss den Menschen Charakter-Orte bieten: Stuttgart-Orte, Treffpunkte. Dieser Gedanke ist den Planern des neuen Stuttgart lästig, weil sie bei ihren Blindflügen die Zeichen einer städtischen Identität ignorieren.

Langzeitgäste dieser Stadt aber, etwa Leute an den Hochschulen oder an der Kunstakademie, vermissen den Platz, an dem man etwas findet - nämlich sich und die anderen - in diesem verwurstelten Stuttgart-Kessel. Höfe werden nicht automatisch Höfe, weil man sie in jeder deutschen Stadt in Bauprojekte integriert. Ihren Namen verdienen sie erst, wenn man sie mit Leben füllt. Und etwas ändern werden nicht neue Gastro-Immobilien. Was man vermisst, ist der Wirt mit Charisma, das Kellner-Ensemble mit Bühnenpräsenz.

Diese Stadt verliert sich selbst, wenn die Politiker sie als Showroom der Immobilienbranche missbrauchen.