Werbung an der Eingangstür des legendären Café Weiß. Foto: Kraufmann

Am Montag ist Heinz Weiß, verstorbener Chef des legendären Café Weiß, beerdigt worden.

Am Montag ist Heinz Weiß, der mit 74 Jahren verstorbene Chef des legendären Café Weiß, unter großer Anteilnahme auf dem Fangelsbachfriedhof beerdigt worden. Für die vielen Freunde des Wirts und seiner Bar eine kleine Geschichte zum Abschied:

Im Jahr 2001 habe ich Heinz gefragt, wann er sich zum letzten Mal gewundert hat. Er sagte, er könne sich nicht erinnern. Seit einer Ewigkeit lebte er in Stuttgart, seit 40 Jahren stand er hinter demselben Tresen, seit 40 Jahren saß er auf der VfB-Tribüne. Was sollte ihn noch umhauen.

Entscheidendes hatte sich nicht verändert in all den Jahren. Zwar warteten in seiner Bar nicht mehr wie früher die Damen auf Freier und die Herren nicht mehr auf andere Herren. Ansonsten aber war alles wie immer im Café Weiß, Geißstraße 16. Das Lokal in der Nähe des Hans-im-Glück-Brunnens hatte sich nicht verändert. Die Kronleuchter hingen, wo sie immer gehangen hatten, Kellner Ranko geisterte weiterhin wie der Weihnachtsmann mit Schokolade-Geschenken der Marke Ritter Sport durchs Lokal, und die Gäste träumten von der guten alten Zeit.

Das Café Weiß war eines der letzten Relikte der Rotlicht-Ära, eine Oase verwitterter Puff-Eleganz, ein Ort der Toleranz. Ende der Achtziger hatte das Kerngeschäft stagniert. Danach konnte man sich noch einiges erzählen in der Bar. Von der Treue der Huren, der Ehre der Luden, den Rex-Gildo-Klamotten der Zocker. Selten war alles gesagt, wenn man nach Hause ging.

Inzwischen hatte sich das Café Weiß in Stuttgarts buntestes Sammellager der Nachtgestalten und eine Art literarischen Salon verwandelt. Schauspieler des Stuttgarter Staatstheaters lasen jeden Monat aus Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Das Unternehmen war auf zwanzig Jahre angelegt.

Eines Tages, das neue Jahrtausend war angebrochen, erhielt Heinz Weiß eine Rechnung über 171 Mark und 67 Pfennig. Das Schreiben kam von der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte, als Gema berüchtigt. Die Gema rechnet Tantiemen ab. Einige Musiker werden durch die Gema reich, andere verhungern mit ihrer Hilfe etwas später. Heinz Weiß, der seine Musikbox vom Typ Wizard mit Edith Piaf und Rock'n'Roll bespielte, nahm die Rechnung der Geldeintreiber nicht persönlich. Schließlich war die Botschaft nicht an ihn, sondern an einen "Lizenznehmer" mit französisch klingendem Namen adressiert.

Heinz, der sich, wie gesagt, nicht mehr wunderte, rief bei der Gema-Bezirksdirektion in Stuttgart an. Wenn sie von besagtem Lizenznehmer Geld wollten, sagte er, müssten sich die Herrschaften auf den Friedhof bemühen. Der Gesuchte sei nach seiner Kenntnis schon ein paar Tage tot. Danach warf er das Schreiben in den Mülleimer und seine kalte Kippe hinterher.

Im Müll läge der Brief noch heute, hätte nicht der schon zu Lebzeiten legendäre Buchhändler Wendelin Niedlich jeden Abend am Stammtisch gesessen und von der Sache Wind bekommen. Niedlich, damals 74, befahl Heinz, den Wisch aus dem Abfall zu fischen. Weil sich Heinz, wie gesagt, schon lange nicht mehr wunderte, schenkte er Niedlich noch eine Schorle weiß-sauer ein und wühlte im Mülleimer. Er fand den Gema-Brief. Heinz hat nie etwas verloren, außer Zeit.

Das Schreiben, so war dem Briefkopf zu entnehmen, galt einem gewissen Herrn Marcel Proust, wohnhaft im Café Weiß, Geißstraße 16. Kaum hatte Niedlich diese Botschaft gelesen, begannen seine Augen vor Freude zu glänzen. Es gab nur eine Erklärung: Marcel Proust war auferstanden. Vermutlich hatte er lange im Keller des Café Weiß geruht, und das hätte keinen gewundert. Die Literaturwissenschaft führt den Dichter als Snob und Salongeist, der, wie einst viele Gäste im Café Weiß, eher Herren als Damen und dunkle Räume liebte. Zwei Bände seiner siebenteiligen "Suche nach der verlorenen Zeit" hatte der Schriftsteller "Sodom und Gomorrha" genannt. Und wer Sodom und Gomorrha kannte, war auch Gast im Café Weiß.

Eindeutig rekonstruieren ließ sich folgender Tatbestand: Wendelin Niedlich hatte, lange vor dem Eintreffen des Gema-Schreibens, ein Stück Pappe zur Werbung für seine literarische Reihe an der Eingangstür der Bar befestigt. Aufschrift: "Marcel Proust, Geißstraße 16". Ein Gema-Schnüffler hatte daraufhin akuten Handlungsbedarf gewittert und die Rechnung ausgestellt. Monsieur Proust sollte demnach für die Musikbox-Beschallung des Café Weiß 171 Mark und 67 Pfennig bezahlen.

Schuld an diesem barbarischen Akt der Bürokratie hatte nach Auskunft der Gema, die ich mir später einholte, ein "Eingabefehler". Womöglich ein göttlicher. Im Jahr der Jukebox-Sünde, am 10. Juli 2001, feierte die Proust-Gemeinde weltweit den 130. Geburtstag des Schriftstellers. Die große Party aber war drei Tage zuvor im Café Weiß gestiegen: Da wurde Heinz 65. Das war die halbe Miete. Leider ist er am 8. November 2010 mit 74 gestorben.