Am Neckar Foto: Hörner

An den Bushaltestellen standen die Wegweiser zu den Stationen der Langen Nacht der Museen.

An den Bushaltestellen standen die Wegweiser zu den Stationen der Langen Nacht der Museen, da war es April und die Uhr auf kurze Nächte umgestellt. Die Nächte sind schnell vorbei, seit mich morgens um halb sechs ein Pfeifen und Zwitschern weckt. Die Amseln, die Drosseln, und wie die Kerle sonst noch heißen, veranstalten morgens ihren Schwabenstreich, wie wir ihn abends um sieben von den Protestvögeln gegen Stuttgart 21 kennen.

Die Vögel sind eifrig bei der Sache. Anders als die auf 60 Sekunden getrimmten Kollegen mit den Tröten halten sie mit ihren Schnäbeln eine gute Stunde durch. Was sie noch nicht so gut beherrschen ist das Trommeln auf Kochtöpfen. Aber der Kollege Specht, das habe ich im Dachswald gehört, ist kräftig am Üben und schon heute ein vielversprechender Drummer.

Manchmal, wenn mich morgens die Vögel wecken, fluche ich über den Schnabelstreich. Dummerweise bleibt den Typen nichts anderes übrig, als Konzerte zu veranstalten. Wie sollen sie an Frauen kommen, ohne ihnen hinterherzupfeifen? Nach internationalen Erkenntnissen sind Vogelfrauen noch nicht so emanzipiert wie spanische Frauen, die vor Gericht ziehen, wenn sie das Pfeifen der Machos hören.

Die Vogelsache ging mir morgens um sechs durch den Kopf. Wenn die Lange Nacht der Museen bevorsteht, plane ich im Bett meine Lange Nacht der Muße. Bekanntlich ist die Muße bei uns seit langem vergessen. Das hat etwas mit dem Tempo zu tun und mit der Dummheit, Tempo mit Fortschritt zu verwechseln. Viele Leute wissen nicht, dass sie auf die Muße pfeifen, wenn sie nie einer Muse hinterherpfeifen. Bei der Muse mit unscharfem S handelt es sich meist um eine Frau. Große Künstler halten sich eine Muse. Herr Goethe Frau von Stein, Herr Lennon Frau Yoko Ono, Herr Bond Frau Bond-Girl.

Wenn einer kein Künstler ist und deshalb keine Muse hat, lauscht er wie ich morgens um sechs den Vögeln und träumt von der Langen Nacht der Muße. Eine Lange Nacht der Muße kann unmöglich wie die Lange Nacht der Museen in vollgepfropften Stadtbussen mit angefixten Partymenschen über die Bühne gehen. Die Lange Nacht der Muße erfordert Einsamkeit, Neugier und Mut zum Nichtstun. "Die sicherste Art, blind durchs Leben zu gehen", hat Oscar Wilde gesagt, "besteht darin, sich nützlich zu machen."

Nützlich macht sich die Muse, aber nicht der Mann der Muße. Der Muße-Mann schnäbelt den lieben langen Tag irgendwo nutzlos herum, bevor er abends um sieben seine Vuvuzela zieht und den Mußelosen den Schwabenstreich bläst.

Die Muße pflege ich, wenn ich zu John Silver gehe. Jeder Müßiggänger kennt Long John Silver von der Schatzinsel. In Erinnerung an ihn habe ich eines Tages den Neckar für mich umgetauft, und weil einem der Neckar in Stuttgart auch in einer langen Nacht recht kurz erscheint, habe ich den Beinamen Long weggelassen. John Silver reicht, da weiß jeder, wer gemeint ist. Das ist der Neckar, wie er in der Sonne glitzert und unnütz vor sich hin schwimmt wie ein toter Vogel.

Als die Vögel schon eine Weile ausgepfiffen hatten, ging ich über den Wilhelmsplatz. Vor der Bar Ciba Mato hatte man reichlich Freiluftmobilar mit weißen Sommerkissen aufgebaut. Auf den ersten Blick wähnt man sich wie zwischen Segeln auf dem Wasser. Man möchte hineinliegen und beim Blick auf das Schwabenzentrum aus der Stadt hinausschnorcheln, ehe die Geier von den Dächern kommen.

Wenn es eine Wiedergeburt gibt, wird sich mancher von denen, die das Schwabenzentrum zu verantworten haben, eines Tages als Krähe im Strandgut des Neckars wiederfinden. Er wird John Silvers dreckige Stiefel putzen und sich mit Fischkadaver über Wasser halten. In seinem Krähenleben wird es so verdammt dunkel sein wie in den vielen Spielautomatenlöchern des Schwabenzentrums.

In jeder Langen Nacht der Museen sollte man eine Gedenkminute vor dem Schwabenzentrum einlegen, um die Lebenden zu warnen vor den Folgen toter Architektur. Und all die ehrbaren Vögel in der Stadt müssen es von den Dächern pfeifen, morgens um sechs und abends um sieben.