Foto: Andi Beilharz

Man schießt schon mal daneben, wenn man Lebensgefühl mit Wasserwerfern treffen will.

Stuttgart - Am Morgen hastig durch die Stadt. Es gibt Tage, da ist sie größer, als du denkst. Die Wächterstraße hinauf Richtung Stitzenburgstraße, zum Bäcker Frank, den Leuten im Freien beim Frühstück zuschauen. Im Haus gegenüber dem Masseur in die Sprechanlage schreien: Dich kenne ich, du gottverdammter Folterknecht. Die Wächterstaffel runter zur Katharinenstraße, weiter zur Wilhelmstraße. Vorbei am Jugendamt - das Mützenschild nach hinten, den Stinkefinger nach oben. In die Altstadt zum braven Bäcker Schmälzle, auf einen Kaffee und etwas Blätterteig mit Wurst.

Warum erzähle ich Ihnen von meinem sinnlosen Frühsport? Weil der heimische CDU-Mensch Kauder nach der Wahlschlappe seiner Partei im schönen Bremen gesagt hat, seine Partei habe "das Lebensgefühl in der Großstadt nicht getroffen".

Sprache klärt auf: Man schießt schon mal daneben, wenn man das Lebensgefühl in der Großstadt mit Wasserwerfern treffen will. Fehlschüsse auf diesem Gebiet ließen sich vermeiden, würde man die Großstadtluft hin und wieder atmen, statt sie mit Abrissbirnen in Staub zu verwandeln.

Die verwechseln Lebensgefühl mit "Zeitgeist"

Die Jungs, die seit geraumer Zeit bei den Kundgebungen gegen Stuttgart 21 mit einem zugelassenen Wasserwerfer vorfahren, mussten neulich die Beschriftung von ihrem Fahrzeug kratzen. Ihre Botschaften ("Führungsspritzen der CDU", "Tränen lügen nicht"), hat ihnen das Amt mitgeteilt, zerstöre den historischen Charakter des Wagens, Baujahr '68.

Für das Lebensgefühl in der Großstadt heißt das: Es ist zwar verboten, einem Oldtimer den Kotflügel abzuschrauben - will man sein Nummernschild mit dem H (historisch) behalten. Erlaubt ist es dagegen, einem denkmalgeschützten Bahnhof den Nordflügel abzuhacken - ohne die H-Zulassung als humaner Mensch zu verlieren.

Wie alles andere im Leben interpretiert die CDU, und nicht nur die, auch den Begriff "Lebensgefühl" aus dem Blickwinkel der Marketingleuchten. Die verwechseln Lebensgefühl mit "Zeitgeist", einer modischen Lebensart, gekennzeichnet von Branding und anderem Bluff. Die nicht (mehr) CDU-wählenden Großstadtmenschen in Stuttgart haben ihrem Lebensgefühl Ausdruck verliehen, als sie zu Trillerpfeife und Tröte griffen. Sie wollten Demokratie und verschafften sich Luft.

Sie begriffen nicht, dass es den Menschen um ihre Stadt geht

Dieses Engagement hat man in "großstadtkompetenten" Parteikreisen nicht als Ausdruck eines Lebensgefühls - als urbane Kultur - erkannt, sondern mit Vorurteilen diffamiert. Abwechslungsweise galten die Protestler als Berufsdemonstranten, Rentner, Esoteriker, Chaoten. Je nachdem, ob die Lebensgefühl-Diagnostiker gerade im Fernsehen einen Berufsdemonstranten in Jesuslatschen oder einen Chaoten im Porsche Cayenne gesehen hatten. Sie begriffen nicht, dass es den Menschen um ihre Stadt: um Orte, um Räume, um Leben geht.

Kürzlich, als sich die SPD und die Grünen in der Stadt endlich dazu durchgerungen hatten, das Hotel Silber, die ehemalige Gestapo-Zentrale in der Dorotheenstraße, als Gedenkstätte zu erhalten, machte sich der OB postwendend für Neubauten am Karlsplatz stark. An dieser Stelle, sagte er, brauche die Stadt dringend "Ladenzeilen und Gastronomie". Man kann es nicht mehr hören. Was wir brauchen, Herr Schuster, ist nicht die ewige Leier von Ladenzeilen & Gastronomie. Was wir brauchen, sind gute Typen, gute Wirte, die gute Restaurants und gute Kneipen führen. Wir brauchen gute Geschäftsleute, die gute Läden aufbauen. Wie brauchen gute Leute, die uns ein großstädtisches Lebensgefühl schaffen. Und weil wir davon zu wenig haben, schreiben schwäbische Großstädter auf ihre Schilder: "Wolfgang, gang!".

Politiker sollten uns nicht dauernd erzählen, wie die Zukunft funktioniert, solange sie nicht einmal die Gegenwart begriffen haben. Und jetzt rasch wieder die Wächterstaffel hinauf und hinunter, ein bisschen Leben in der kleinen Großstadt fühlen.