Stuttgart stimmt ab: Blick auf den Südflügel Foto: PPFotodesign.com

Normalerweise werfe ich Werbepost in die Tonne, diesmal allerdings wurde ich neugierig.

Von Herrn Dr. Wolfgang Schuster weiß man, dass es ihm nicht gelingt, sich von seiner psychologischen Kampftruppe im Rathaus einen halbwegs originellen Text für den Fassanstich auf dem Volksfest schreiben zu lassen oder wenigstens seine Leerzeilen mit gutem Vortrag zu füllen. Als Redner ist er ein Ausfall. Wohl deshalb hat er sich jetzt als Briefschreiber versucht.

Normalerweise werfe ich Werbepost in die grüne Tonne, diesmal allerdings wurde ich neugierig. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass sich der Herr Oberbürgermeister mit der Formulierung "Sehr geehrter Herr" an mich wendet. Schon eine Zeile später aber, als wäre das ganze Jahr Trachtenkirmes, verhöhnt er mich mit diesem Versprechen: ". . . am Sonntag entscheiden Sie über die Zukunft unserer Stadt. Jetzt sind Sie gefragt, wie es mit Stuttgart 21 weitergehen soll . . . Sie stellen die Weichen . . . " Die Wahrheit ist, dass ich so wenig gefragt werde und Weichen stelle wie alle anderen Bürger, die Herr Schuster mit seinem Propagandaschrieb behelligt.

Wie nicht überall im Land bekannt, findet an diesem Sonntag die sogenannte Volksabstimmung statt, und jeder, der bis drei zählen kann, wird schnell herausfinden, dass die Volksabstimmung eine Farce ist. Unter einer Farce versteht mein Koch im Wortsinn eine Füllung: etwas Hineingestopftes, das wie unsere Landesregierung weder Fisch noch Fleisch ist.

Es gibt bei dieser Volksabstimmung ein Quorum. Um für eine vernünftige Zukunft der Stadt, also gegen Stuttgart 21 entscheiden zu können, müsste ein Drittel der Wahlberechtigten (und nicht etwa der Wähler) für den Ausstieg aus dem milliardenteuren Immobilienprojekt im Bahnhofsviertel stimmen. Wer sich auf dieser Ebene eine echte Chance ausrechnet, wird auf die Wahlgepflogenheiten der DDR zurückgreifen müssen (Frau Merkel weiß Näheres).

Die S-21-Gegner haben nach irdischen Maßstäben so gut wie keine Möglichkeit, das Quorum zu erreichen. Es müsste, wie unser frommer Grünen-Ministerpräsident Kretschmann gesagt hat, "ein Wunder" helfen. So scharf aber sind die Grünen gar nicht auf ein Wunder. Im Konfliktfall werden sie lieber Stuttgart 21 durchpeitschen als das Risiko eingehen, ihren (ersten) Ministerpräsidenten und ihre Jobs an der Macht zu verlieren. Die Grünen sind ja nicht nur von ihrer folkloristisch gestrickten Galionsfigur Kretschmann abhängig, sondern auch von der Gallensteinfigur Schmiedel, ihrem roten Koalitions- und Gottesbruder.

Das bedeutet: Nachdem die Politik den Bürgerprotest gegen S 21 lange Zeit nicht ernstgenommen und verspottet hat, entwürdigt und entmündigt sie den Bürger am 27. November erneut, indem man ihm vorgaukelt, er könne fair über eine Sache abstimmen. Ich sage es nicht zum ersten Mal: Im Konflikt um S 21 hat man versucht, dem Vorwurf der Scheindemokratie mit Scheinwerfer-Demokratie zu begegnen: Transparenz mit Fernsehshows vorzuspielen. Jeder weiß heute, dass diese politisch verpackten TV-Soaps mit dem Stimmungsmacher Geißler etwa so viel Gehalt hatten wie der einst als "Schmierseifen-Olympiade" berühmt gewordene TV-Wettstreit "Spiel ohne Grenzen".

Dieses Format stammt aus den sechziger Jahren und ist damit nicht nur ähnlich alt wie Sprache & Design in Schusters Propaganda für den Fortschritt, sondern auch so seriös wie das Werbegewäsch der siebziger Jahre. In Schusters Doppelblatt an den "Bürger" hat man auf der Rückseite düstere Fotos von "Heute" und am Computer fabrizierte Wunschbilder aus der "Zukunft" abgedruckt. Vom Blubberblasen-Bahnhof keine Spur. Über einer weiten Parklandschaft mit Häusern und dem Rosensteinmuseum liest man folgende Schlagzeile: "Papa, Papa, stimmt es wirklich, dass hier früher Züge gefahren sind?"

Diesen Spruch kennen wir so ähnlich aus der Colgate-Werbung der Siebziger: "Mami, Mami, er hat überhaupt nicht gebohrt." Mit dieser Zahnpasta-Reklame will der OB (der sehr wohl bohren lassen wird) den Bürger blenden und liefert, wohl für Zurückgebliebene, Papas Antwort: "Damals gab es auch starke Proteste. Doch hätte die Bahn nicht gebaut, dann hätten wir jetzt keine Wohnungen im Rosenstein. Und die schönen Grünanlagen mit Spielplätzen und Radwegen gäbe es auch nicht."

Dieser Klein-Dummi-Ton - der OB-Brief wurde mit einem sechsstelligen Betrag aus Steuergeldern finanziert - beleidigt jede Intelligenz, und der Stil verrät, welche politische Qualität dahinter steckt.

Papa, Mama, stimmt es wirklich, dass man sich 2011 nach Christus diese Schmierenkomödie gefallen lassen musste?