Mineralbad Leuze in Stuttgart Foto: dpa

Neulich kam ich aus dem Mineralbad Berg, meine Handtücher waren noch nass.

Die Dinge ändern sich, nach den Großdemonstrationen zeichnen die Medien ein neues Stuttgart-Bild. Kehrwochen-Klischees, Vorurteile über die Langweilerstadt verschwinden langsam. Neulich kam ich aus dem Mineralbad Berg, meine Handtücher und meine Bademütze waren noch nass, da las ich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) diese schönen Sätze: "Völker der Welt, schaut auf diese Stadt - aber bringt eure Badehosen mit! Und wer nur Bahnhof versteht, hat nichts verstanden. Hier sprudelt der Protest an den Mineralquellen des Bürgertums."

Der Autor Gerhard Stadelmaier, ein gebürtiger Schwabe, war zu den Sechs-Uhr-Badern ins Leuze vorgedrungen, zu den unbeugsamen Frühaufstehern, die man kürzlich mit neuen Öffnungszeiten aus dem spartanischen Bad Berg ins komfortable Leuze vertrieben hat. In dem Text ("Stuttgart als geistige Lebensform") erfährt man etwas über den liberalen Geist "freier Bürger", über die Rebellen von den heiligen Quellen und ihre allzu lange Geduld mit einer "durch widernatürliche Schneisen und Betonklötze verschandelten Stadt". Dass "unbürgerliche Chaoten" Bierflaschen nach Polizisten werfen und Schnellzüge entern, schreibt der Autor, "macht die schöne praktische Utopie bürgerlichen Protests nicht überflüssig".

Manchmal ist ein altes Notizbuch von Vorteil. Ich finde Eintragungen, wie der Montagsprotest vor dem Nordflügel in Gang kam, wie man über die "Rentner" vor dem Bahnhof als "Bremser des Fortschritts" spottete, wie man in den Kampf zog: Am 30. November 2009, steht in meinem Buch, trug einer ein Plakat mit der Aufschrift: "Der VfB spielt unterirdisch. Aber der Bahnhof bleibt oben." Die Botschaft hat nichts an Aktualität verloren. Doch das Spiel läuft heute anders.

Wochenlang berichteten Medien mit Staunen, Arroganz und Ahnungslosigkeit: Ausgerechnet im "beschaulichen Stuttgart", bei den "rechtschaffenen Schwaben" gehen die "Musterbürger" auf die Straße. Kein Wort über die traditionell demokratische Haltung in der Stadt. Darüber, wie die Bürger mit dem zweitgrößten Ausländeranteil der deutschen Städte umgehen. Kein Satz über die kulturelle Lebendigkeit in Stuttgart, wo Dutzende junger Künstler seit Jahren in bunten Eisenbahnwaggons auf potenziellem Stuttgart-21-Gelände leben und arbeiten. Nichts über die Bedeutung der Bühnen, des Opernhauses, wo einst ein schwuler Choreograf aus Südafrika das internationale Ballettwunder schuf und die Menschen bewegte, als anderswo der Paragraf 175 das spießbürgerliche Klima prägte. Wo die Musik der Avantgarde ein begeistertes Publikum fand, als eine moderne Mozart-Inszenierung in München mit Eiern beworfen worden wäre. Nichts über das Kneipenmilieu, wo heute gute Live-Clubs und Bars nur noch Altvordere daran erinnern, was für ein Abenteuer es vor einem Vierteljahrhundert war, die Nächte gegen alle provinziellen Verbote mit Fantasie zu gestalten.

Stattdessen der misstrauische, ungläubige Blick auf eine Protestbewegung, die nicht koscher sein kann, weil Stuttgart "sauber" ist. Nicht lange her, als sich ein Reporter der linken Berliner "Tageszeitung" in eine Poesie verstieg, wie man sie in keiner Schülerzeitung findet. In der Königstraße, "auf dem Gehweg", erschnüffelte er einen "Hundehaufen" als Beweis für "ein klein wenig Anarchie", ein "Punk vorm Hautbahnhof" diente ihm als Zeichen der "Rebellion gegen die Etikette", ansonsten sichtete er "sortierte Kleingärten und Naherholungspfade".

Jetzt, Wochen nach diesem Beweis alternativer Intelligenz, versucht sich eine Taz-Autorin an einer neuen Milieustudie: "Manch einer sorgt sich schon um Stuttgarts neues Krawallimage. Doch das Gegenteil stimmt: Stuttgart wird cool, Kehrwoche war gestern. Angesagt sind Großdemos, Gleisblockaden und Hausbesetzungen." Das Blatt kennt auch die Hintergründe der neuen Coolness: " . . . den Bürgern liegt nicht einfach nur ein denkmalgeschütztes Gebäude am Herzen: Sie haben es satt, dass ein derart invasives Bauvorhaben von oben durchgeprügelt wird." Jetzt also steht die Stadt nicht mehr für hochgeklappte Bordsteine. Sie zeigt "ein anderes Verständnis von Demokratie".

An Spott auf schwäbische Folklore hatte man sich gewöhnt. Nehmen wir die Dinge wie immer gelassen, auch mit Blick auf eine Hauptstadt, die deutsche Geschichte niederreißt, um den Wiederaufbau ihres Stadtschlosses zu erzwingen. Überall in der deutschen Architektur lebt der Fassadismus. In Stuttgart tun sie was dagegen.

Amüsant ist diese Beobachtung: Stuttgarts millionenteure Imagekampagnen sind verpufft, Slogans und Logos für die Katz. Wahrgenommen wird der Protest. Die Marketing-Artisten hätten besser versucht, Gewachsenes zu vermitteln. Die wunderbare Hügellandschaft, den liberalen Umgang mit Fremden, die hochkarätige Kultur, die einmaligen Quellen.

Es sind nicht "die Schwaben", welche die Phrasen über diese Stadt zu verantworten haben. Es sind Politiker. Mundart-Darsteller wie Schuster, Drexler, Mappus, Gönner. Die sieht man in der "Tagesschau".

Zur Erholung von der Aufregung um unsere kleine Stadt tauche ich für den Rest des Tages in unser heiliges Wasser, und wenn es an der Oberfläche blubbert, ist es mein cooler Gruß an alle Stuttgart-Planer und -Deuter dieser Welt.

Joe Bauer liest am Dienstag, 14. September (20 Uhr), im Schlesinger.
Musikergäste im Flaneursalon sind Stefan Hiss, Michael Gaedt, Dacia Bridges & Alex Scholpp.
Kartentelefon ab 17 Uhr: 07 11 / 29 65 15.