Am Nordbahnhof Foto: dpa

Der Konflikt um Stuttgart 21 ist auch ein Streit über Vergangenheit und Zukunft.

Der Konflikt um Stuttgart 21 ist auch ein Streit über Vergangenheit und Zukunft. Die Zukunftsabteilung verwechselt fast immer alt mit altmodisch und Geschichte mit Nostalgie. Jeder Plan, Altes durch Neues zu ersetzen, gilt ihr als Zeichen des Fortschritts. Die Vergangenheitsbewussten neigen dazu, Bestehendes als Erhaltenswertes zu sehen. Über die wichtigste Sache aber, nämlich die Qualität von Alt und Neu, spricht man am wenigsten. Das Thema Lebensqualität opfert man der Stresstest-Frage, wie viele Gleise wie viele Züge in wie vielen Stunden aushalten.

Es geht um Geschichte und ihre Geschichten

Unlängst hat mich eine Sozialarbeiterin gebeten, bei einer Tagung etwas zum Thema "Stadt und Jugend" zu sagen. Ich saß am Schreibtisch und dachte: Die einzige Legitimation, dazu etwas zu sagen, ist mein Verdacht, selbst mal jung gewesen zu sein. Beweise dafür habe ich nicht. Dann gab ich mir einen Tritt und sagte: Das Problem, auf dem Laufenden, in der Gegenwart zu sein, ist keine Frage des Alters. Es ist eine Frage der Neugier. Es geht um Geschichte und ihre Geschichten.

Das Thema Stadtgeschichte hat man in Stuttgart in der Vergangenheit verschämt und hinterwäldlerisch ignoriert - von der Gegenwart ganz zu schweigen. Inzwischen ist man dabei, ein Museum für Stadtgeschichte einzurichten, es soll in das Wilhelmspalais einziehen. Bin gespannt, wie man beispielsweise den Niedergang der Altstadt oder den Aufbruch der Stuttgarter Hip-Hop-Musiker darstellen wird.

Bühnen mit kurzem Verfallsdatum

Diese Beispiele habe ich gewählt, weil ich zuletzt immer wieder beobachtet habe: Auch junge Menschen sind, entgegen den Klischees, sehr wohl an Stadtgeschichte interessiert, an den Zusammenhängen von Vergangenheit und Gegenwart. Man will entdecken. Als das Theater Rampe im Frühjahr die Aktion "Achtung! Es lebt!", ein historisches Projekt mit originellen Führungen durchs Alte Schloss, startete, war der Andrang so groß, dass die Veranstaltung im Juni wiederholt werden musste. Fünf Stunden Stadtgeschichte live, viele junge Menschen unterwegs, es hat Spaß gemacht.

Nächste Station. Seit Jahr und Tag gibt es in der Stadt die "Montagegruppe", eine freie, unkommerzielle Initiative, die regelmäßig im Club Tonstudio an der Theodor-Heuss-Straße (und nicht nur dort) kulturelle Abende aller Art veranstaltet. Das Publikum ist gemischt, es sind viele junge Leute dabei, und auch hier habe ich mich öfter gewundert, wie vermeintlicher Nostalgie-Stoff aus einem unbekannten Stuttgart Freude macht. Neugier weckt.

Die Bürgerbewegung gegen S 21 hat ein neues Bewusstsein zur Stadt und ihrer Geschichte geschaffen. Es gibt eine neue Kreativität, ein neues Verhältnis zum Lebensraum. Und es gibt viele kulturelle Aktionen an temporären Orten, Bühnen mit kurzem Verfallsdatum. Daran sind - dem Spott über den "Rentner-Protest" zum Trotz - junge Menschen maßgeblich beteiligt.

Fast kultureller Notstand in den 80er und 90er

Verglichen mit heute waren die achtziger oder neunziger Jahre für junge Zeitgenossen in Stuttgart Dekaden des kulturellen Notstands. Es gab kaum Bühnen, kaum Clubs. Die Notversorgung leisteten (abgesehen vom damals noch jungen Theaterhaus) ein paar progressive Jugendhäuser. Heute ist im weiten Umfeld der provisorischen Bühnen des Staatsschauspiels an der Türlenstraße und den Waggons am Nordbahnhof so viel los, dass es kaum noch möglich ist, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Stadt ist in Bewegung geraten, nicht nur auf ihren Partymeilen (die wie alles andere Lebendige ohne politische Planer entstanden sind).

Man kann darüber streiten, wie viele Mineralbäder eine Stadt braucht. Was aber soll die Arroganz, das bedrohte Bad Berg als überflüssiges Relikt der Vergangenheit, als Heimat schrulliger Gestriger abzutun, um die Hintergründe eines lukrativen Immobiliengeschäfts zu verschleiern?

Zukunft planen und um die Geschichte kümmern

Immer wenn Bürger Respekt vor der Stadtgeschichte einfordern, werden sie von coolen Zukunftspropheten als Fossile der "Dagegen-Fraktion" abgekanzelt. Als ergraute Altvordere aus dem "Früher war alles besser"-Museum. Floskeln ersetzen Wissen, Meinung kaschiert Ahnungslosigkeit. Unterdessen wächst die Zahl derer, die etwas wissen wollen über ihre Stadt.

Hätten sich die Rathaus-Politiker öfter mal mit den guten Geschichten der Stadtgeschichte befasst, statt Trump-TowerBlasen steigen zu lassen, hätten sie sich viele Blamagen in ihrer dilettantischen Stadtwerbung erspart. Die Zukunft einer Stadt zu planen, ohne sich um ihre Geschichte zu kümmern, heißt ja nur, aus der Vergangenheit nichts gelernt zu haben.