Ehemalige Bahn-Direktion an der Heilbronner Straße Foto: Kern

Auf den Kaffeetassen der Vesperkirche steht geschrieben: "Es ist genug für alle da!"

Auf den Kaffeetassen der Vesperkirche, der Verpflegungsstation für arme Menschen in der Leonhardskirche, steht geschrieben: "Es ist genug für alle da!" Mit Blick auf den globalen Markt ist dieses Motto hochpolitisch: Die Demonstranten der OccupyBewegung, die weltweit gegen die Macht und ihre Zocker kämpfen, fordern ja nichts anderes als neue Regierungen, die das Geld so verteilen, dass es keine Armen gibt.

Diese Idee gilt vielen als naiv, so wie jeder Gedanke als naiv gilt, wenn er Politik und Macht infrage stellt, ohne postwendend eine (friedliche) Alternative zu bieten.

Um die Not der Armen zu lindern, greifen in der Regel weniger Arme ein. Neulich, als in der Leonhardskirche eine "Es ist genug für alle da!"-Tasse vor mir stand, trat die Vesperkirchen-Band mit ihrem Chor auf. Die Kapelle heißt "rahmenlos & frei", der gemischte Chor besteht zu zwei Dritteln aus Obdachlosen, der Rest sind Helfer und Künstler wie Patrick Bopp vom A-cappella-Ensemble Füenf und der Entertainer Roland Baisch. Im vollen Haus umjubelt, spielten sie Hits wie "I Am Sailing", "Stand By Me", "Mein kleiner grüner Kaktus". Es war eine Gänsehaut-Darbietung im Leonhardsviertel, wo das Elend auf der Straße gegenwärtig ist.

Die Altstadt, den Stadtkern von Stuttgart, haben die Politiker abgeschrieben. Nur einen Steinwurf vom Leonhardsviertel entfernt, geht es um die schöne Zukunft und das große Geld. Und was dort, am Hauptbahnhof, passiert, ist ein globales Lehrstück aus der Provinz.

Wenn die Stadtumwälzer in Stuttgart-Mitte von Fortschritt und Zukunft reden, meinen sie nicht ein besseres Leben für die Bürger von morgen. Das Wort Zukunft bedeutet ihnen: Markt. Spekulationen und Wetten im Kasino- und Cyperkapitalismus schaffen Gewinne und Verluste immer in der Zukunft, selbst wenn es bei An- und Verkäufen nur um Zehntelsekunden geht.

Eine simple Sache. Die Vergangenheit stört bei Geschäften noch mehr als die Gegenwart, die dazu da ist, für die Zukunft ausgelutscht zu werden. Deshalb platzen alle "Es ist genug für alle da!"-Träume so sicher wie die nächste Börsen-Blase.

Kurz nach diesem Gedankenspiel über meiner Vesperkirchen-Tasse kam die Nachricht, die Deutsche Bahn wolle die alte Bahn-Direktion gegenüber dem Bonatzbau komplett abreißen. Die Totalzerstörung, hieß es, komme billiger als der alibihafte Erhalt eines Fragments, in Fachkreisen als "Fassadismus" bekannt.

Der Plan, das denkmalgeschützte Gebäude komplett wegzumachen, hat mich keine Sekunde lang irritiert. Die Totalzerstörung wäre insofern konsequent, als die Vergangenheit grundsätzlich der Zukunft im Weg steht. Dass daneben der Hauptbahnhof nur seine Flügel verliert und (noch) nicht rundum flachgelegt wird, geschieht nicht etwa aus Rücksicht auf die Geschichte, deren Lehren und das Stadtbild. Die Ideologie des Fassadismus soll vergangenheitsbewusste Fortschrittsbremsen beschwichtigen. Ducken die sich trotzdem nicht rechtzeitig, verfolgt die Polizei "Wutbürger", "die zu Hassbürgern werden".

Wo sonst gäbe es eine lohnendere Zukunft als auf einem für Immobilien eingeebneten Gelände im Herzen einer Großstadt? Die Heuchelei rund um S 21 belegt auch das in Pro-21-Kreisen gepflegte Argument, die Verstümmelung des Bonatzbaus gegen alle Denkmalschutz-Gesetze sei legitim - sein Architekt habe, Empörung!, vor der Nazi-Zeit Nazi-Elemente eingebaut.

Würde die Bahnhofsarchitektur tatsächlich Nazi-Botschaften versenden, hieße die Folgerung der Zerstörer: Amputiert man Teile eines Nazi-Baus, verliert er sein Böses. Etwas Dümmeres und Absurderes habe ich selten gehört. Die Wahrheit ist: Die Bahn hat keine Hemmungen, Stadt und Land nach Belieben umzubauen. Kein Problem. Auch grüne Mächtige handeln im Dienst ihrer rosigen Zukunft.

Gegen einen Komplettabriss der Bahnhofsdirektion haben aufgeschreckt S-21-Befürworter protestiert, darunter der SPD-Baubürgermeister Hahn. Pathetisch sagte er, dazu stehe er "wie aus Erz gegossen". Ja, in der Scheinheiligkeit. Jahrelang war von ihm kein Wort zu hören.

Die unfreiwillige Pointe in dieser Geschichte kam von dem Stadtrat Klingler. Der kommentierte den Komplettabriss-Plan mit den Worten: "Man kann schließlich nicht alles mit Geld aufwiegen."

Da unterliegt er, wohl nicht zufällig bei der FDP, seiner ewigen Gestrigkeit: Etwas nicht in Geld aufzuwiegen hieße, die Zukunft zu blockieren. Dann aber wäre nicht mehr genug für ein paar wenige da.