Gemälde einer Stadt im Licht Foto: Petsch

Für einen Augenblick war ich oben, für einen Akt, den man "Momentaufnahme" nennt.

Für einen Augenblick war ich oben, für einen Akt, den die Floskeldeutschen "Momentaufnahme" nennen. Es ging um ein Foto, ein schnell geschossenes Bild im Weißenburgpark, beim Teehaus.

Es war ein schwindelerregender Blick am Mittag in den Sonnenkessel, zum Glück nicht umwerfender als nötig, da ich auf der Mauer vor den Aussichtsbänken stand.

Der Blick von den Hügeln ins Tal ist das eine, dieser Herbst 2011 das andere. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen solchen Herbst erlebt zu haben. Und wenn, dann habe ich es nicht bemerkt, weil ich im richtigen Augenblick falsch gelebt habe, sofern das möglich ist.

Schon Anfang Oktober, als ich ein paar Tage Ferien machte, in Brooklyn, regierte dieser Altweibersommer die Stadt, den die Nordamerikaner Indian Summer nennen. Es war ein warmer, nahezu heißer Herbst, ein Spätsommerrausch aus dem Medizinmannkessel, und als ich durch die Straßen und Parks ging, kam mir oft der gleiche Gedanke: Seltsam, wie sich eine Stadt darstellt, wenn man ihre Trampelpfade verlassen hat. Obwohl ich mittendrin war, schien die große Stadt nicht da zu sein. Ich staunte über kleine Häuser mit Gärten, über Straßen mit Bäumen, über die Endlosigkeit des Parks mit seinem Wasser.

Wer aber alles groß in Szene setzte, war der Herbst, dieses Ausleuchtungsgenie. Es war nicht nur ein Wunderherbst in der fremden Stadt, es war ein Weltwunderherbst, denn kaum war ich zurück, sah auch daheim alles anders aus, als ich es in Erinnerung hatte.

"Alles kommt anders wenn der Wind weiß wird das Luftgespinst sich verdichtet."

An solchen Herbsttagen fängt man an, Frühlingsgedichte zu lesen, mit ein wenig Bammel vor der Zukunft. Auf Eisenbahnfahrten hat man solche Bändchen in der Tasche, gekauft im Bahnhof, und dann fand ich es wieder: "Alles kommt anders / wenn der Wind / weiß wird / das Luftgespinst / sich verdichtet."

Das ist ein Frühlingsgedicht, es heißt "Maiwinter", geschrieben hat es Rose Ausländer, und ich dachte: Dieser Weltwunderherbst ist wie ein kostümierter Mai, bevor der Schnee kommt, wenn der Schnee sich das noch traut. Alles war durcheinandergeraten, und alles sprach dafür: Dieser Herbst ist in Ordnung wie keiner zuvor, die Blätter fallen weicher als die Börsenkurse.

Herbstliche Farbenspiele sieht man am besten von oben

Wie es der Teufel will - als ich von einem Stadtherbst im anderen gelandet war -, bat mich eine auswärtige Zeitschrift, ich solle ihr aufschreiben, warum ich Stuttgart liebe. Da kam mir der Weltwunderherbst in den Sinn, warum man seine Farbenspiele am besten von oben sieht, vom Haigst oder vom Teehaus, und so tippte ich in den Computer: "Wenn man hinunterschaut in den Kessel, dann kann es sein, dass man im Herzen und im Schritt dieses Ziehen spürt, das man Liebe nennt."

Bald darauf zogen Halloween, Allerheiligen und der November in die Stadt, aber der Herbst blieb, wie er war. Am frühen Morgen konnte ich im Dachswald durch die Blätter das Blau des Himmels sehen. Es war kalt, doch man fühlte es nicht, weil das weiße Luftgespinst noch keine Lust verspürte, sich zu verdichten.

Heute ist es Zeit, ein Lied anzustimmen, einen Choral mit Orgel und Posaunen, Schlagwerk und Elektro-Bässen, eine Hymne auf den Weltwunderherbst 2011, diesen schrägen Lichtervogel, der vor den Jahreszeiten so wenig Respekt hat wie vor dem Weihnachtsgeschäft. In der Apotheke in der Nachbarschaft stehen zwei geschmückte Tannenbäume, man hat passende Ware dazugestellt, doch wenn man ins Schaufenster schaut, spiegelt sich darin die herausgestreckte Zunge einer Harlekingestalt. Das ist der Herbst.

Der Weltwunderherbst hat ihm noch einmal eine Frühlingschance gegeben.

Dieser Schelm mit der Lichtmaschine hat an Allerheiligen sogar die Halloween-Leichen und ihre schmutzigen Spuren aus den Straßen der Stadt weggeblendet, auch die junge Frau, die am Nachmittag im Bohnenviertel wie tot auf dem Bordstein lag, womöglich erledigt vom Herbstzeitlosengift. Ihr Kerl schrie ihren Namen, und er heulte, doch ehe die Helfer eines Notarztwagens von einem anderen Katastrophenort in der Nähe herüberkamen, wusste ich schon, dass das Mädchen leben würde.

Der Weltwunderherbst hat ihm noch einmal eine Frühlingschance gegeben. Als das Mädchen aus seiner Ohnmacht erwachte, leuchteten seine Augen, wie sie nur leuchten in einem Herbst, der eine Droge ist, die es gut mit einem meint.