Das Wengerterhäuschen in der Firnhaberstraße, Sitz einer Galerie Foto: Piechowski

Im April wird in der Firnhaberstraße das alte Wengerterhaus, der Sitz der Galerie Körner, abgerissen.

- Es war ein sonniger Märztag, als in der Stadt die Straßenbahnfahrer und Busfahrer streikten, und ich hatte mit harter Konkurrenz in den Straßen gerechnet, mit Armeen von Fußgängern auf ihrem großen Trail von A nach B. Allenthalben wird zurzeit von der Wiederkehr des Flaneurs gesprochen, vom schreibenden Spaziergänger, der sich gehen lässt, weil er geht.

Aber es war beim großen Fahrstreik nicht mehr los als an jedem anderen Tag, sieht man davon ab, dass ich beim Überqueren der Theodor-Heuss-Straße in den Demonstrationszug der Gewerkschaft geriet. Fröhlich schwenkte ich meine Mütze. Bewusstes Herumgehen in der Stadt dient seit jeher der Menschlichkeit.

Viele Leute in der Stadt haben eine Aversion, wenn nicht eine Aggression gegen Menschen entwickelt, die mit Trommeln und Trillerpfeifen in den Straßen herumgehen, um das Wenige noch zu retten, das sowieso nicht mehr zu retten ist. Ein Protestzug durch die Heussstraße (die vor der Autobahnisierung Stuttgarts Rote Straße hieß und etwas hermachte) dürfte die Bürger jedoch kaum stören. Auf diesem Kurs sind Wochenende für Wochenende ganz andere Pfeifen unterwegs: in aufgepimpten Autos mit exotischen Kennzeichen.

Die Begegnung mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung war nicht alles am Tag des großen Streiks. Zunächst war ich beim Herumgehen ins Hospitalviertel geraten, in eine der Gegenden, die es trotz respektabler Anstrengungen ihrer Bürger so wenig zu einer urbanen Nische mit Kiez-Charakter schafft wie alle anderen Stuttgarter Quartiere. Diese Stadt wird kein einziges gut belebtes Viertel mit eigenständiger Kultur hervorbringen, solange die herrschenden Politiker Stadtautobahnen, Abrissbirnen und Investoren-Klötze zu Ikonen ihres „Fortschritts“ erheben.

Dem womöglich mehr als 500 Jahre altem Wengerterhaus geht es an den Kragen

In der 400 Jahre alten, nicht sehr bekannten Firnhaberstraße im Hospitalviertel, zwischen Theodor-Heuss-Straße und Schlossstraße, geht es bereits im kommenden April dem Gebäude mit der Hausnummer eins an den Kragen. Es ist ein Wengerterhaus, womöglich mehr als 500 Jahre alt, auf jeden Fall das älteste Gebäude in der ehemaligen Turnierackervorstadt. 1811 war das Giebelhaus im Besitz des Weingärtner-Obermeisters Johann Gottfried Ortlieb. Bereits 1986 schrieb der Stuttgarter Historiker Harald Schukraft, 56, es komme „beinahe einem Wunder gleich“, dass ausgerechnet das Weingärtnerhäuschen in der Firnhaberstraße „alle Stürme der Zeiten unversehrt überstanden hat“.

Nur wer die Geschichte einer Stadt kennt, entwickelt ein Gefühl für sie

Was aber sind die Stürme der Zeiten gegen die Stadtplanung und die Ignoranz von Geschichte im Rathaus? Das alte Gebäude mit seinem früheren Küferbetrieb hat man 1999 unwidersprochen von der Liste des Denkmalschutzes gestrichen, und zwar mit der so törichten wie provinziellen Begründung, 70 bis 80 Prozent der inneren Substanz seien nicht mehr „original“.

Es hätte nach den Erfahrungen der jüngeren Zeit keinen Sinn, Denkmalschützer, Baubürgermeister & Gesinnungsgenossen zu fragen, seit wann es bei der Bewahrung von Vergangenheit um die Beschaffenheit von Steinen geht. Es wäre müßig, ihnen zu sagen, warum historische Orte Brücken zur Gegenwart und Zukunft schlagen. Warum auch kleine Denkmäler den Menschen aufzeigen, wer vor ihnen da war – und wo sie heute leben. Nur wer die Geschichte einer Stadt kennt, entwickelt ein Gefühl für sie. Das alte Haus im Hospitalviertel könnte auch in Zukunft viel erzählen. Weil man Geschichte an allen Ecken zerstört, vom Bahnhof bis zur Firnhaberstraße, entstehen keine Viertel mit großstädtischem Charme. Dies hat mit der Psychologie von Orten und Architektur zu tun, und nichts wird sich ändern, solange man die Stadt als Spielautomaten für Investoren begreift.

Die Firnhaberstraße 1 ist Sitz der Kunstgalerie Andreas Körner. Die Frontseite ist über der Tür mit einem roten Fleck bemalt, er sieht aus wie ein Blutstropfen. Am 17. März, in der Langen Nacht der Museen, geht die letzte Galerie-Veranstaltung über die Bühne. Danach wird ein weiteres Kapitel Stadtgeschichte einem Wohn- und Bürokomplex geopfert. Nach und nach verliert die Stadt auch die Reste ihre Seele.