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Das Herz des Rummels ist die Illusion – Kolumnist Joe Bauer über den Schausteller Fritz Kinzler

Stuttgart - Der Schausteller Fritz Kinzler war der Einzige, der in diesem mysteriösen Fall Licht ins Dunkel bringen konnte. Bevor ich ihn traf, hatte mir ein Gastwirt die Geschichte vom alten Wasen-„Zigeuner“ erzählt. Sie spielt in einer Zeit, als das Wort „Zigeuner“ noch so gebräuchlich war wie „Neger“. Es hieß, der Mann sei als einziger Überlebender einer Familie des fahrenden Volkes aus dem KZ der Nazis heimgekommen. Er habe nichts besessen. Nur eine Idee.

Nach dem Zweiten Weltkrieg steht eine kleine Bretterbude mit schwarzem Vorhang auf dem Wasen. Eine Schrifttafel verspricht dem Volksfest-Publikum: den „Blick ins Jenseits“. Viele Leute scheinen sich nach dieser Aussicht zu sehnen. Scharenweise lösen sie Eintrittskarten, um die große Stuttgart-Sensation zu erfahren: Drüben, auf der anderen Seite des Lebens, sieht es exakt so aus wie am Neckar auf dem Wasen.

Jeder damals ahnt, dass nicht einmal der stolze Eintrittspreis von zehn Pfennig den Blick ins Überirdische öffnet. Aber jeder freut sich über den Einfall, diese Geschichte den Leuten zu verkaufen. Die Kunst des Überlebens und des Träumens steht hoch im Kurs nach dem Krieg. Fritz Kinzler ist heute 76. Kaum einer kennt den Wasen so gut wie er, und selbstverständlich ist auch ihm die Sache mit dem Jenseits zu Ohren gekommen. An der Legende ist etwas dran, sagt er, den Zigeuner allerdings gibt es nur in der Fantasie der Leute. In Wahrheit hat das Geschäftsmodell ein erfahrener Schausteller entwickelt.

Fritz Kinzler hat sich bereits vor einigen Jahren aus dem Berufsleben verabschiedet. Aber was heißt das schon. Er sagt: Wer als Schausteller geboren wird, stirbt als Schausteller. Im kommenden Jahr feiern er und seine Frau Monika Goldene Hochzeit. Ihre Kinder Stefan und Patricia arbeiten in fünfter Generation als Schausteller, zurzeit sind sie beim Frühlingsfest mit der Achterbahn „Wilde Maus“ und dem etwas wilderen „Breakdance“-Modell auf dem Wasen.

Herr Kinzler ist der große Fritz des Rummels. Ein Kind des Wasens. Im Juni 1935 wird er am Rande einer Wassersport-Schau in Cannstatt geboren. In seiner Karriere leitet er vorzugsweise Fahrgeschäfte, sie heißen „Cortina-Bob“, „Hully Gully“, „Looping“. Finanziell bewegt er millionenschwere Riesen-Räder. Er erzählt, wie er vor nicht allzu langer Zeit zehn Lastzüge mit den Teilen der „Wilden Maus“ zur Tankstelle fahren ließ. Dreitausend Euro trägt er bei sich, und so schwer hat er sich nie zuvor verrechnet. Der Diesel kostet zehn Riesen.

Fritz Kinzler sagt, er sei immer ein „moderner Schausteller“gewesen, süchtig nach fortschrittlicher Technik, nach virtuosen Maschinen. Bereits 1960 reist er mit dem Kegelclub der Schausteller, er heißt „Lass en fatze“, in die Vereinigten Staaten. Was die Show- und Entertainment-Größen in der Neuen Welt auf Lager haben, fasziniert den Mann aus Stuttgart. Er investiert, er liebt das volle Risiko, das große Glitzerspiel. Bis heute steht eine seiner Kreationen, der „Musik-Express“, im Vergnügungspark von Coney Island, New York.

Als wir über die Geschichte vom Blick ins Jenseits reden, geschieht etwas Merkwürdiges. Der erfahrene, mit allen Wassern gewaschene Schausteller sagt: Ich halte die Entwicklung auf dem Wasen für falsch. Immer nur „schneller, höher, weiter“, das ist ein Irrweg. Und dann reden wir über Tradition, über die Ursprünge der Kirmes, über Fantasie, Magie und Gaukelei. Wir reden darüber, was auf der Kirmes geboren wurde und populär geworden ist. Die Kunst des Varietés, die Akrobaten, die Komödianten. Wenn man so will, sogar das Kino.

Fritz Kinzler sagt, das Volksfest heute ist kein Fest mehr fürs Volk, keines für die ganze Familie. Er vermisst die klassische Schaubude, die Orte der Freaks, die kleinen Spielstätten der großen Sensationen. Es gibt sie nicht mehr, die Frau ohne Kopf und ohne Unterleib, die Albträume im Kinderzimmer auslöst. Es fehlt der stärkste Mann der Welt, der sich von einem Auto überfahren lässt. Vorbei die Tage des Hypnotiseurs, der für einen Zehner Schweigegeld ausgesuchte Kandidaten flachlegt.

Auch heute, sagt Fritz Kinzler, müsste es der Großmutter möglich sein, mit ihren Enkeln über den Platz zu spazieren, Zeit zu finden für die kleinen Wunder. Ein Fehler, das kindliche Vergnügen komplett dem Gekreische in Wahnsinnskarussells und Partyzelten zu opfern. Der Wasen, sagt der Schausteller, ist wie Fernsehen: Es geht um Quoten, nicht um Ideen und Fantasie.

Herr Kinzler, werfe ich ein, glauben Sie etwa, die alte Schaubude hätte auf dem Event-Rummel noch eine Chance?

Selbstverständlich, sagt er, man muss sich halt etwas Neues einfallen lassen. Es ist ja gerade die große Kunst des Schaustellers, sagt er, Neues neben Altes zu stellen, Tradition mit Gegenwart zu verbinden. Das Herz eines Volksfestes ist die Illusion.

Er erinnert sich, wie Träume Wirklichkeit wurden, wenn sich in den Tunneln der Rummelfahrzeuge Ehen anbahnten, wenn der Steilwand-Artist auf seinem Motorrad zum Superstar des Wasens aufstieg, wenn der Ballon-Verkäufer Kinder zum Lachen brachte. Die Brücke des Dirndl-Zirkus zur Kuriositäten-Kirmes ist gekappt.

Eine verdammt große Welt ist der Rummelplatz und Fritz Kinzler eine Nummer zu groß für eine Zeitungskolumne. Ein paar Schritte ist er freundlicherweise in sie hineinspaziert. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Die Sache mit der zeitgenössischen Schaubude ist noch offen. Womöglich hilft ein Blick ins Jenseits.

Joe Bauer liest am Mittwoch, 9. Mai, im Wirtshaussaal der Friedenau in Ostheim. Musik machen Stefan Hiss, Roland Baisch, Anja Binder & Jens-Peter Abele. Beginn 20 Uhr. Karten: 07 11 / 2 62 69 24.