Protest-Camp in Mühlhausen Foto: dapd

Zum 70. Geburtstag von Bob Dylan am 24. Mai habe ich mir seine schlechteste Platte gekauft.

Zum 70. Geburtstag von Bob Dylan am 24. Mai 2011 habe ich mir bei Ratzer Records die schlechteste Langspielplatte gekauft, die Bob Dylan je gemacht hat. Sie heißt "Self Portrait" und umfasst, wenn ich richtig gezählt habe, 24 erbärmlich gesungene Songs, darunter die grausame Cover-Version von Paul Simons "The Boxer". Als die Doppel-LP 1970 mit Dylans wunderbarem, expressionistisch gemaltem Selbstporträt auf der Hülle erschien, schrieb der große amerikanische Kritiker und Dylan-Kenner Greil Marcus: "Was soll der Scheiß?"

Im September schließt der historisch gewachsene Liebhaberladen

Diese Frage habe ich mir, als ich jung war, bei Dylans Songs andauernd gestellt. Seinerzeit hatte ich von Dylan keine Ahnung und damit genauso viel wie heute. Die rätselhafte Scheibe "Self Portrait" habe ich mir unter anderem deshalb geholt, weil bei Ratzer alles rausmuss, und zwar schnell. Schon im September gibt er seinen historisch gewachsenen Liebhaberladen an der Paulinenstraße auf und zieht in die Altstadt um, ins Leonhardsviertel, wo er neben der legendären Kneipe Brunnenwirt die Räume des Bohnen-Cafés an der Hauptstätter Straße übernehmen wird.

Eine Plattenbude ist gut für ein Quartier, wo die Nadel sonst nicht unbedingt auf Rillen tanzt. Ratzer hat eine anständige Altstadtecke gefunden, gleich neben dem kleinen Live-Club Kiste und dem eleganten Jazzclub Bix, mit etwas Fantasie kann man den Sound der City hören.

Von den Clubs, in denen Bob Dylan früher in New York, unten in Greenwich Village, gespielt hat, ist kaum einer übrig geblieben. Manhattan hat man in den vergangenen Jahren so sauber durchgeputzt, dass ich mich nicht trauen würde, einen Kirschkern auf die Straße zu spucken.

Die Zeiten haben sich geändert, und Bob Dylans berühmteste Botschaft hat sich so weit herumgesprochen, dass auch unsereins weiß, bei wem sich der Spät-Rock'n'Roller Willy Brandt bediente, als er 1989 in Berlin die deutsche Vereinigung intonierte: "The Times They Are A-Changin". Leider haben Willys sozialdemokratische Nachfahren, speziell die Stuttgarter Rentner-Band mit Drexler und Schmiedel an Maultrommel und Goschenhobel, diese Zeile bis heute nicht begriffen.

Als habe ein Marathonläufer zu lange Mentholkippen Kette geraucht

Als ich mit 15 erstmals Dylan-Platten hörte, konnte ich nichts damit anfangen. Die Stimme klang, als habe ein Marathonläufer zu lange Mentholkippen Kette geraucht. Erschwerend kam hinzu, dass meine Freunde, sobald sie drei Klampfenakkorde beherrschten, Bob Dylans Lieder am Lagerfeuer sangen. Überall wo sie seinen näselnden Gesang imitierten, verübten Fuchs und Hase sofort Selbstmord.

Ich hasste Lagerfeuer. Das Lagerfeuer war die Möglichkeit, nächtens unseren Käffern zu entkommen, um neuerlich in Kuhfladen zu landen.

Was Dylan gesungen hat, blieb mir fremd, war mir zu hoch. Ich begriff den Dichter nicht. Nur in lichten Momenten habe ich gespürt, dass er was Besonderes war. Wie sonst hätten Jimi Hendrix und die Byrds Dylan-Vorlagen wie "All Along The Watchtower" oder "Mr. Tambourine Man" in Wahnsinnsnummern verwandeln können. Ich wurde älter, konnte mit meiner Dummheit besser umgehen und habe mich irgendwann so tief vor Bob Dylan verbeugt, dass ich bei Konzerten beinahe im Hallenboden versunken wäre. Eines Tages jedoch habe ich eingesehen, dass der Mann zu groß ist und nicht zu fassen, jedenfalls nicht für mich.

Alles ging weiter. Viele meiner Rockplatten tauschte ich gegen Songschreiber- und Country-Scheiben. Bob Dylan bekam eine atemberaubende, raue Männerstimme. Aber damit war die Sache mit den Lagerfeuern noch nicht gegessen.

Heute sind die Leute wieder in Bewegung, in Stuttgart, Madrid, Kairo. Sie marschieren und singen, um dem Rest zu zeigen, dass sich die Zeiten ändern. Und ruck, zuck sitzen wir wieder am Lagerfeuer.

Im Calendula-Garten von Mühlhausen brennen abends die Lagerfeuer.

In Mühlhausen, der womöglich meistunterschätzten Klärwerkstation der Welt, haben Gegner von Stuttgart 21 ihr Aktionscamp aufgeschlagen. Für die Musik und die Action hat man ein stattliches Zirkuszelt und fürs Schlafen und Informieren kleine Zelte hingestellt. Ich war nur auf einen Sprung im Calendula-Garten von Mühlhausen, habe nicht viel mitgekriegt. Wahr ist auf jeden Fall, dass abends Lagerfeuer brannten. Wahr ist auch, dass der weithin bekannte Sänger Konstantin Wecker am Lagerfeuer von Mühlhausen Lieder gesungen hat. Da wäre ich gern dabei gewesen, schon weil es im Calendula-Garten keine Kuhfladen gibt. Wecker ist noch nicht so alt wie Dylan, kommende Woche wird er 64, brennt aber schon so heftig wie der Alte. Genug ist nicht genug.

Wenn ich Ratzer das nächste Mal treffe, werde ich ihn fragen, ob er mir Bob Dylans schlechteste Langspielplatte aller Zeiten eigentlich ohne verdammte Gewissensbisse verkauft hat. Dylan ist Dylan, wird er sagen. Was soll der Scheiß.