Der Bauzaun am Bahnhof Foto: dpa

Der Nordflügel des Bonatz-Baus soll abgerissen werden - Kreative Touristen-Attraktion.

Am Nordeingang des Hauptbahnhofs lagern rostige Stahlträger. Um die wegzuräumen, bräuchte man einen Kran oder zweihundert Gewichtheber. Dennoch hat man sie vorsichtshalber beschriftet: "Die Stahlträger gehören nicht zu Stuttgart 21."

Wo das alte Eisen liegt, beginnt der Bauzaun vor dem Bahnhof. Der Nordflügel des Bonatz-Baus soll bald abgerissen werden, und die Absperrung am Tatort, dem Schauplatz des Protests, ist derzeit Stuttgarts kreativste Touristen-Attraktion. Der Zaun ist lückenlos mit Botschaften behängt und zieht immer mehr Neugierige an. Die Menschen, sonst eher an den Bildschirm gefesselt, staunen über die größte Wandzeitung der Stadt. Auf Pappe steht: "Halt, Zonengrenze! Sie verlassen den demokratischen Sektor der Stadt Stuttgart."

Das Gleichnis von der geteilten Stadt, wohl auch von der Mauer in den Köpfen, liegt nahe in diesen Tagen: Am 13. August 1961 begann Ulbrichts DDR-Regime mit dem Bau der Berliner Mauer. Am 3. Oktober feiert Deutschland den 20. Jahrestag seiner Wiedervereinigung.

Jeder Zaun mit politischem Hintergrund ruft in der Republik Berliner Bilder wach. Das Volk neigt seit jeher zu lustigen Vergleichen, egal, wie sie hinken. Fantasie kümmert sich nicht um historische Präzision. So wie man einst die Fahrt hinauf zum Fußballplatz der Stuttgarter Kickers als "Sturm der Golanhöhe" karikierte, so wie drei Kneipen auf engem Raum im Leonhardsviertel das "Bermuda-Dreieck" absteckten, sieht man den Maschendraht vor dem Bahnhof als Symbol des Eisernen Vorhangs zwischen zwei Systemen: "Für Stuttgart 21" - "Gegen Stuttgart 21". Und was den Aufständischen der DDR recht war, ist den Stuttgarter Rebellen billig: "Wir sind das Volk - Wir sind die Bürger."

Im August 1986, zum 25. Jahrestag des Mauerbaus, stiefelte ich für eine Reportage zweit Tage lang die Berliner Mauer entlang und war beeindruckt von den Namen, die man ihr verpasst hatte. Sie war "Reptil", "Stadtmöbel", "Monstrum", "Moloch", "Ausgeburt anarchistischer Fantasie" - und diente Armeen von Graffiti-Sprühern als Projektionsfläche.

Die Künstler der Nacht nahmen den "antifaschistischen Schutzwall" (DDRBezeichnung) mit Humor und lackmeierten frisch drauf los: "Mauern gilt nicht", "Der Letzte macht das Licht aus", "Schade, dass Beton nicht brennt". Gedroht wurde höchstens mal dem im Saarland geborenen Dachdecker und DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker: "Erich, rück den Schlüssel raus!" Selbst auf dem weiten Feld der Sinnlichkeit machte man aus der Not eine Tugend: "Warum in die Ferne schweifen, wenn die Ute liegt so nah?"

Auch der Mauergeist am Stuttgarter Bahnhof produziert im Kampf gegen politische "Betonköpfe" Zug um Zug Kalauer. Auf der "Saustelle" begegnen wir der "TaliBahn", treffen "Bahnausen" und landen in der "Bahnanenrepublik". Mentale Hilfe schenkt man uns mit dentalen Anleihen: "Vorbeugen ist besser als Bohren." Philosophische Weitsicht prägt den Spruch "Oben bleiben - Unter die Erde kommen wir noch früh genug". Religiöser Spirit spiegelt sich auf einem Heiligenbildchen: "Maria hilf!"

Weit weg von den Sponti-Ideen der Berliner Mauer-Sprayer begegnen wir am Stuttgarter Schnipselzaun lyrischer Ernsthaftigkeit, etwa in den Zeilen von Mahatma Gandhi: "Zuerst ignorieren sie dich, / dann lachen sie über dich, / dann bekämpfen sie dich, / und dann gewinnst du." Auch Bert Brecht kommt zu Ehren: "Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war."

Und weil uns der Dichter Brecht lehrt, dass Wut und Zorn nicht genügen, sondern praktische Folgen haben müssen, hat man wohl einen ausgestopften Stoffsack an den Zaun gehängt. Der soll, beschriftet mit den Namen einschlägiger S-21-Bosse, dem "Abbau von Frust und Ärger" dienen. Schließlich, so steht es am Zaun, handelt es sich alles in allem um eine "Granada-Sauerei" - "Ond älles von meim Geld".