Höhenflug per Gleitschirm: Jochen Streicher hat es gewagt – und ein Hochgefühl erlebt. Foto: privat

Jochen Streicher nennt es „psychischen Höhenflug“. In diesem Zustand befindet sich der Gleitschirmflieger, seit er Mitte Januar aus Brasilien zurückgekehrt ist. Er habe sich nicht vorstellen können, noch einmal so einen beständigen Gesundheitszustand zu haben, sagt der Bempflinger, der an Mukoviszidose leidet.

Ditzingen - Ist das Glück? Jochen Streicher nennt es lieber „psychischen Höhenflug“. In diesem Zustand befindet sich der Gleitschirmflieger, seit er Mitte Januar aus Brasilien zurückgekehrt ist. Er habe sich nicht vorstellen können, noch einmal so einen beständigen Gesundheitszustand zu haben. „Das ist gigantisch“, sagt er. Hatte er in der Vergangenheit die intravenöse Antibiotikatherapie hinter sich gebracht, war die Besserung nicht anhaltend: „Nach einer Woche wurde es so schlecht wie vorher.“

Dabei hätte der 49-jährige aus Bempflingengar nicht nach Südamerika reisen sollen, schon gar nicht zum Gleitschirmfliegen. „Die Ärzte hatten alle abgeraten“, erzählt der 49-Jährige. Er ließ sich dennoch nicht abhalten, er nahm sein Erspartes, die Ärzte gaben ihm zudem die Möglichkeit, sich medikamentös bestmöglich auf der Reise abzusichern. Streicher hörte in sich hinein und beschränkte sich: „Ich habe mitgenommen, was ich sowieso brauche.“ Nicht mehr, nicht weniger.

Vom Motorrad zum Gleitschirm

Mit seinem Gleitschirm im Gepäck machte er sich auf zu einem 14-tägigen Trip nach Südamerika, von dem er trotz allem nicht sicher wusste, was ihn und seinen Freund erwarten würde. Und dann das: „Am ersten Tag bin ich hundert Kilometer geflogen.“ Das war zigmal mehr, als er jemals zurückgelegt hatte.

Gewiss, Streicher ist ein ausgebildeter Gleitschirmflieger, hatte zudem ein Sicherheitstraining absolviert – all dies, obwohl er einer ersten Information zufolge als chronisch Kranker gar nicht hätte fliegen lernen dürfen. Eine Flugschule belehrte ihn eines besseren, also machte er im Bregenzer Wald vor vier Jahren, was ihn, den einstmals passionierten Motorradfahrer reizte. Dabei hatte er große Höhen bisher immer gemieden. „Ich habe Höhenangst“, sagt Streicher. Doch er hörte abermals auf ein Gefühl, das so viel stärker war, als der Zweifel: Er wollte einfach fliegen.

Er hatte alles richtig gemacht, denn unter dem Schirm, unter dem er zurückgelehnt in die Gurte geschnallt ist, war die Höhenangst verschwunden. Mehr noch: das Gefühl, „wenn man mit den Vögeln aufdreht, ist gigantisch“. In Brasilien waren alle Zweifel weg. „Das Klima hat mir so gut getan, es ging mir jeden Tag besser“, sagt er. Dabei war das Fliegen nordwestlich von Rio jedes Mal aufs Neue eine Kraftanstrengung. „Man ist sehr angespannt und konzentriert.“ Die vielen Leitungen, die quer über die Felder verlaufen, die Unruhe unter den Wolken und das meterhohe Gras, das von oben gar nicht als solches zu erkennen ist, bei einer Landung aber nachteilig ist, waren das eine. Das andere waren die entspannten Augenblicke, die er genoss: „Es gab schöne, ruhige Flugmomente“, sagt er.

Abends völlig erledigt

Das sind dann die Momente, in denen er auch nicht an den Traubenzucker dachte, den er für den Fall einer Unterzuckerung immer dabei hatte. Die Auswirkungen des Gendefektes, der in seiner Kindheit diagnostiziert worden war, blieben auch in Brasilien sein ständiger Begleiter. Das führte ihn nicht nur der Gleitschirm vor Augen, der den Schriftzug des Mukoviszidoseverbands trägt. „Alles geht nicht mehr“, sagt Streicher. Zum Beispiel: den Berg hochlaufen. „Aber den Berg hochfliegen, um dort zu landen: Das ist so schön.“

Wenn die anderen der Fluggruppe, der er sich in Brasilien angeschlossen hatten, abends ausgingen, war er nach dem Essen und dem Inhalieren so kaputt, das er um 22 Uhr ins Bett ging. Aber was war diese Einschränkung schon gegen die Erfahrung, „Urlaub vom Krankenhaus“ zu machen, wie er es nennt. „Das sind wertvolle Dinge, die einem Kraft geben für Zeiten, in denen es einem schlecht geht, um sie einigermaßen gut zu überstehen“. Auch diese kennt Streicher.

Seine Lungenfunktion war schon unter 30 Prozent, ein Wert, bei dem man „eigentlich sauerstoffpflichtig“ sei. Inzwischen ist er wieder bei 45 Prozent. Er sei dankbar, dass es ihm so gut geht, sagt der Mann, der auch schon einmal auf einer Liste für eine Lungentransplantation gestandne hat. Als sich die Werte besserten, wurde er aber wieder von der Liste gestrichen. Streicher hadert mit dieser Transplantationspraxis. Denn im Umkehrschluss bedeute dies, dass derjenige bevorzugt werde, dem es schlechter gehe, auch wenn er alle Jahre undiszipliniert gelebt habe: „Es ist ein schwieriges Thema.“

Doch die Momente der Freude sind nach wie vor stärker als jeder Gram. Viele Faktoren haben dazu beigetragen, dass Streicher so gestärkt nach Deutschland zurückkehrte: die Bewegung, das Klima, die Freunde. Das weiß er wohl. Manfred Schröder, Mitinitiator des Ditzinger Lebenslaufes formuliert es so: „Das Glück und die Seele spielen eine große Rolle.“