Sabine Kupferberg in einer Fotosequenz von Jiři Kylián Foto: Kylián

Unter John Cranko ist Jiří Kylián in Stuttgart als Tänzer bekannt geworden. Mit seinen Arbeiten am Nederlands Dans Theater wurde er international als Choreograf bekannt. Jetzt versucht er als Fotograf, bewegte Bilder festzuhalten.

Jiří Kylián, ein Gerücht macht die Runde, nach dem Sie für drei Jahre zurückkehren in eine Leitungsfunktion. Mehr noch: dass Sie für das Ballet de Lyon choreografieren. Ist an dem Gerücht etwas Wahres, oder handelt es sich dabei eher um ein Wunschdenken?
Ich bin dem Ballet de Lyon seit den Achtzigern verbunden; meine erste Einstudierung, „La Cathédrale engloutie“, erfolgte noch unter der Direktion von Françoise Adret. Es sind inzwischen noch viele dazu gekommen. Ich schätze das Ensemble sehr, nicht zuletzt weil es mich an das Nederlands Dans Theater früherer Jahre erinnert – mit all den Choreografien von Forsythe, Duato, Naharin, Lightfoot, van Manen und natürlich auch von mir, die inzwischen im Repertoire zu finden sind. Deshalb habe ich das Angebot von Yorgos Loukos, die nächsten drei Jahre eine Position als Artist in Residence zu übernehmen, auch gerne akzeptiert.
Und das bedeutet?
Das bedeutet nicht, dass ich dort neue Stücke schaffe. Vielmehr handelt es sich dabei eher um eine Beraterposition. Es verändert sich auch nicht viel; ich werde wie bisher meine Stücke zur Verfügung stellen. Aber ich möchte dort auch ganz besondere Arbeiten vorstellen wie zum Beispiel „East Shadow“, das mit ehemaligen Tänzern von NDT 3 und einer Pianistin entstand, oder „Last Touch First“, auch ein Stück mit älteren Tänzern.
Ein ähnlicher Vertrag, wie ihn Ihr ehemaliger Stuttgarter Kollegen William Forsythe unter Benjamin Millipied gehabt hat und den er jetzt unter Mirkki Niisinen beim Boston Ballet hat. Er schließt allerdings das Nicht-Choreografieren nicht aus.
Mag sein. In Lyon werden jedenfalls meine Filme gezeigt, meine Arbeiten, die nach meinem Weggang vom NDT entstanden sind, und die Fotoinstallation „Free Fall“.
Über die wir noch sprechen wollen. Warum choreografieren Sie eigentlich nicht mehr?
Es war keine bewusste Entscheidung, es hat sich einfach so entwickelt. Mich interessieren inzwischen eben andere Facetten von Kreativität: Film, Video und – Fotografie; nein, das wäre zu viel gesagt. Bei „Free Fall“ handelt es sich um eine theatralische Präsentation dessen, was ich fotografiert habe. Das Bewegtwerden hat sich dabei in sein Gegenteil verkehrt: den Stillstand.
Ihr Hauptinteresse gilt seit längerer Zeit dem Film. Sie haben größere produziert wie „Zugvögel“, „Carmen“ und „Between Entrance & Exit“. Und es gibt kürzere wie „Schwarzfahrer“ und erst vor kurzem „Oskar“ mit Bernice Coppieters und Jean-Christophe Maillot für Les Ballets de Monte Carlo.
Einer ist darüber ein wenig in Vergessenheit geraten: den 24-Minuten-Film „Watermark“, den ich 2000 zusammen mit der britischen Filmemacherin Margaret Williams gemacht habe.
Filme finden sich beispielsweise auch in einem Stück wie „Birth-Day“, das ein Jahr später mit Sabine Kupferberg, Egon Madsen, Gioconda Barbuto, Gérard Lemaitre und David Krügel entstand.
Genau. Was mich dabei interessiert, ist ein Film mit denselben Darstellern, die auch auf der Bühne zu sehen sind. Diese Interaktion zwischen Leben und Tod, wie ich sie zuletzt in „East Shadow“ versucht habe, finde ich sehr symbolträchtig und absolut vielschichtig. Sie hat etwas Tragikomisches, denn der Film ist totes Material, während die Menschen auf der Bühne noch leben. Aber irgendwann werden sie sterben, und dann scheint einzig und allein der Film lebendig: ein verrückter Widerspruch, der mich sehr beschäftigt.
Ihr Interesse für den Film wurde schon früh geweckt, bereits während der Ausbildung, als Sie im benachbarten Filminstitut vor allem Stummfilme schauten. Wohnt der Kinematografie nicht letztlich auch etwas Choreografisches inne?
Die allerersten Stummfilme waren Tanzfilme, das sollte man nicht vergessen. Es gab keinen Ton. Das Einzige, was an ihnen interessant war, war die Bewegung. Die Filme mit Loie Fuller beispielsweise waren fantastische Kinoereignisse. Doch um auf meine Fotostudien „Free Fall“ zurückzukommen: Ich habe mich mein ganzes Leben mit Bewegung beschäftigt und begreife den Augenblick einer Fotografie wie ein Fallbeil, das eine Bewegung in Vergangenheit und Zukunft teilt. Sie wirkt wie eine „erstarrte Choreografie“. Diese Bilder des „bewegungslosen Theaters“ werden den darstellenden Künstler jahrelang überleben.
Der Künstler, das ist in diesem Falle eine Tänzerin, Ihre Muse: Sabine Kupferberg.
Alle Fotos in meiner Installation „Free Fall“ zeigen Sabine. Ihr hat sich die Zeit ins Gesicht geschrieben. Sie ist fähig, auf die sich ständig verändernde emotionale Welt zu reagieren. Sie hat die Fähigkeit, diese Veränderung darzustellen. Dabei geht es auch immer um Kunst und Künstlichkeit, zwei Worte mit derselben Wurzel, die in ihrer Bedeutung etwas Gegensätzliches signalisieren.
Aber hat Kunst nicht immer etwas Künstliches? Ein Tänzer, der einen verliebten Romeo verkörpert, ist doch nicht wirklich verliebt. Er stellt das Verliebtsein künstlich dar.
Genau das fasziniert mich an Sabine. Ihre Verwandlungskunst. Sie versuche ich festzuhalten – egal, ob in einer Choreografie, in einem Film oder wie jetzt in einer Foto-Installation.
Wann haben Sie mit dem Fotografieren begonnen?
Die erste Kamera bekam ich mit neun. Ich erinnere mich noch gut an Josef Sudek, einen ganz wunderbaren tschechischen Fotografen. Er wohnte gewissermaßen um die Ecke. Ich bin ihm in Prag immer wieder begegnet mit seiner alten Kodak-Kamera, mit Holzständer. Er fotografierte noch auf Platten, die teuer waren. Hunderte Mal konnte er zu einem Platz gehen, bis er das optimale Licht für die gewünschte Aufnahme hatte.
Die Kamera ist also für Sie nichts Neues. Neu ist es aber, unter künstlerischen Gesichtspunkten zu fotografieren.
Ich habe immer viel fotografiert, auch während meines Engagements beim Stuttgarter Ballett, damals aber vor allem Tanz. Im Korzo-Theater in Den Haag habe ich mir allerdings ein Atelier angemietet mit einer kompletten Beleuchtungsanlage, mit den besten Kameras, computergesteuerten Auslösern und Mitarbeitern, die mir das alles ermöglicht haben. Sabine wurde gleichzeitig von vorne wie von hinten fotografiert. Was einfach klingt, aber unglaublich kompliziert ist, weil die eine Kamera die andere stört, selbst wenn Sabine dazwischen steht. Das heißt, man kann nicht gleichzeitig auslösen. Man muss eine hundertstel Sekunde dazwischen haben, um die Beleuchtung zu wechseln. Und das ist das Fallbeil, von dem ich gesprochen habe, das Vergangenheit und Zukunft zerhackt. Das ist der Augenblick . . .
. . . den Sie in Ihrer Ausstellung zeigen, untermalt mit Musik.
Der allerschönsten Musik, die es gibt. Meine erste Platte war das „Musikalische Opfer“ von Johann Sebastian Bach. Jahre später habe ich mich in die „Kunst der Fuge“ verliebt, und daraus sind Teilchen in der Ausstellung zu hören, eingespielt selbstverständlich von Glenn Gould. In der Mitte der Ausstellung hängt an einem Faden ein zwei Meter breites Foto, das sich langsam dreht. Es hat eine schwarze und weiße Seite. Darunter ist ein Labyrinth aus Erde, eine Kopie des berühmten Labyrinths von Chartres. Im Raum verteilt finden sich auf verrostete Tischchen kleine Skulpturen, die man entweder auseinandernehmen oder zusammensetzen kann. Und natürlich die Fotos. Alles ist sehr symbolisch: die Aufstellung der Fotos, das Labyrinth, das drehende Foto, der Apfel, der auf einer Bilderserie zu sehen ist. Kurz: ein Puzzle, zusammengesetzt aus lauter Verrücktheiten, die den Zuschauer nachdenklich machen sollen.
Die Ausstellung war eine Woche lang im Korzo-Theater zu sehen und soll später in Lyon gezeigt werden. Warum nicht auch in Stuttgart, wo Sie sich während der Ära John Crankos vom Tänzer zum Choreografen entwickelt haben? Wo Sabine Kupferberg als Tänzerin an der Cranko-Schule ihre Ausbildung erhielt und ihr erstes Engagement hatte?
Das wäre natürlich wunderbar. Aber es müsste ein Theaterraum sein, eine Beleuchtung haben und eine funktionierende Aufhängung. Manche Fotos sind – doppelt verglast, weil von beiden Seiten zu beschauen – 60 Kilo schwer.
Vielleicht das Kammertheater?
Warum nicht? Ein Raum im Rahmen der Staatsgalerie und dennoch ein Theater: Idealer können die Bedingungen für meine fotografische Installation gar nicht sein. Ich bin gespannt und voller Hoffnung.