Plakat zur Wanderausstellung 1950/51 Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Wie führt man die Jugend nach Krieg und Naziherrschaft in eine andere Zeit? Was macht man aus der neuen Freiheit im Denken und Lesen? Die Stuttgarter Journalistin Jella Lepman hatte die Vision, mit Kinderliteratur die Völker zusammenzubringen.

Stuttgart - Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen.“ Jella Lepmans Mission muss im Nachkriegsdeutschland überzeugend geklungen haben, zumal sie mit Energie und Enthusiasmus vorgebracht wurde – und nicht zuletzt mit der Autorität der Uniform eines amerikanischen Majors.

Doch bis am 20. August 1946 in einigen instand gesetzten Räumen der Württembergischen Landesbibliothek eine Schau mit 4000 internationalen Kinder- und Jugendbüchern eröffnet werden konnte, hatte Mrs. Lepman eine ganze Reihe Bürokraten betören müssen. In den ausgebombten Städten war der Wiederaufbau von Wohnraum dringlicher als die Wiederbelebung von Kulturinstitutionen. Die Eröffnung geschah in Gegenwart der politischen Prominenz: Der US-Militärgouverneur Oberst William W. Dawson war da, Ministerpräsident Reinhold Maier, Kultminister Theodor Heuss, Oberbürgermeister Arnulf Klett, der Schweizer Generalkonsul Ernst Eduard Suter. Am anrührendsten sprach ein Jugendlicher: „Die deutsche Jugend ist in der Lage eines Wanderers, der nach dem furchtbaren Marsch durch Wüste und Geröllhalden zwar die Nacht überstand, aber noch nicht erkennen kann, wohin der Weg führt. Wir, die wir unsere ganze seitherige Entwicklung in den engsten territorialen Grenzen erfuhren, sind ganz und gar auf die freie Welt angewiesen, um von ihr zu lernen, was man uns bisher vorenthielt.“

Der Bibliotheksdirektor Wilhelm Hoffmann konnte in drei Wochen 15 000 Besucher begrüßen, insgesamt waren es in München, Frankfurt, Hamburg und Berlin mehr als eine halbe Million. Dank des großen Erfolgs und mit ihrem Elan gelang es Jella Lepman, die temporäre Ausstellung zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen – der 1949 eingeweihten Internationalen Jugendbibliothek in München. Dorthin war sie damals in die Redaktion der Illustrierten „Heute“ versetzt worden und hatte in Erich Kästner einen Mitstreiter gefunden. Ihm lieferte sie auch die Idee zu dem von Walter Trier illustrierten Bilderbuch „Konferenz der Tiere“: „Wir werden die Welt schon in Ordnung bringen. Wir sind schließlich keine Menschen“, heißt es darin optimistisch vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Krieges.

„Die Katze mit der Brille“

Jella Lepman war selbst eine fantasievolle Autorin, nachzulesen in ihrer Autobiografie „Die Kinderbuchbrücke“ oder einem von ihr herausgegebenen Lesebuch „Die Katze mit der Brille“, zu dem sie auch eigene Gutenachtgeschichten beitrug.

Geboren wird sie 1891 als Jella Lehmann in einem jüdisch-liberalen Elternhaus in der Stuttgarter Sophienstraße. Sie besucht das Katharinenstift, organisiert mit 17 Jahren eine internationale Lesestube für die Kinder der ausländischen Arbeiter in der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik. So früh schon ist sie von der verständnisfördernden Bedeutung der Literatur überzeugt.

1913 heiratet sie den deutsch-amerikanischen Fabrikanten Gustav Horace Lepman, der 1922 an den Folgen seiner Kriegsverletzungen stirbt. Obwohl Mutter zweier kleiner Kinder wird sie die erste weibliche Redakteurin beim „Stuttgarter Neuen Tagblatt“, verfasst gesellschaftspolitische Artikel und gründet 1927 die Beilage „Die Frau in Haus, Beruf und Gesellschaft“.

1928 erscheint ihr Kinderbuch „Der verschlafene Sonntag“ im Haedecke-Verlag, im Jahr darauf wird ihr Kindertheaterstück „Der singende Pfennig“ am Schauspielhaus aufgeführt. Als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei kandidiert Jella Lepman neben Theodor Heuss und Reinhold Maier für den Reichstag. Nach Hitlers Machtübernahme wird ihr Vertrag als Redakteurin aufgelöst. Bis 1935 beschäftigt man sie noch als freie Mitarbeiterin, 1936 emigriert sie mit Tochter und Sohn nach England, wo sie Arbeit beim BBC, später beim amerikanischen Rundfunk, danach an der US-Botschaft in London findet. Sie schreibt unter Pseudonym mehrere Bücher, darunter ein Lesebuch für den Deutschunterricht „Die Kinder vom Kuckuckshof, eine Detektivgeschichte aus dem Schwarzwald“.

Mrs. Lepman in Major-Uniform

Nach Kriegsende wird sie gefragt, ob sie als Beraterin für Frauen- und Jugendfragen nach Deutschland gehen will. Sie ist jetzt 54 und entscheidet sich anzunehmen: „Wäre es um Erwachsene gegangen, hätte ich keinen Augenblick gezögert, Nein zu sagen. Die Kinder aber, lag der Fall hier nicht anders? Waren die Kinder in Deutschland nicht genauso schuldlos wie die Kinder überall auf der Welt? Wehrlose Opfer furchtbarer Ereignisse?“

Von Bad Homburg aus, dem US-Hauptquartier für Besatzungsaktivitäten, fährt Mrs. Lepman in khakifarbener Majors-Uniform mit dem Jeep durch Deutschland, kommt auch nach Stuttgart, wo inmitten der zerstörten Stadt noch der Tagblatt-Turm steht, ihr einstiger Arbeitsplatz. In ihren Erinnerungen werden diese Jahre mit den ganzen Nöten, der Aufbruchsstimmung und der Tatkraft lebendig. Sie glüht für ihre Sache, neben Carepaketen Nahrung für den Geist zu verbreiten.

In der Geschichtsschreibung der Landesbibliothek war bisher nirgends nachzulesen, welchen Nachhall die Stuttgarter Ausstellung der Internationalen Jugendbücher anno 1946 später noch zeitigte. Erst zwei jetzt wieder aufgefundene Ordner geben einen spannenden Einblick.

Anfang März 1950, zwei Monate vor der Wiedereröffnung der Landesbibliothek, schreibt Dietrich Seckel von der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft an Jella Lepman mit der Bitte um Unterstützung. Die Erziehungsabteilung der amerikanischen Verwaltung von Württemberg-Baden hat nämlich angeregt, eine Kinderbuchausstellung in mittleren Städten zu zeigen, und will dafür 2000 Mark zur Verfügung stellen. Was natürlich niemals für die Anschaffung von neuem ausländischem Büchermaterial reicht, geschweige denn, dass jemand noch einmal vermag, zwanzig Länder anzuschreiben und um Tausende Titel zu bitten.

Von „Heidi“ bis zum „Troztzkopf“

Jella Lepman antwortet, dass sie lediglich eine kleine Kollektion von internationalen Büchern ausleihen könne, und macht den Vorschlag, deutsche Verlage anzuschreiben, um deren neue Buchproduktion zu zeigen. Sie liefert eine Liste mit infrage kommenden Jugendbuchverlagen und bietet darüber hinaus an, 46 Kinderzeichnungen aus England, Spanien, Dänemark, der Türkei, der Tschechoslowakei und den USA auszuleihen. Wie es lebenslang ihre Art gewesen ist, macht sie sich Gedanken und gibt Hinweise, etwa auf die Amerika-Häuser oder auf zu präsentierendes Waldorf-Spielzeug.

Im Sommer 1950 gehen Briefe an die Verlage, in denen um Freiexemplare von Kinder- und Jugendbüchern, dazu Prospekte und Plakate gebeten wird. Erstaunlich viele antworten, teils mit Bestellzetteln, teils mit handschriftlichen Kärtchen. Dann kommen Pakete: „Heidi“ und „Trotzkopf“ von der Droemerschen, Bonsels und Max Eyth von der DVA, Bergengruen und Lise Gast von Thienemann, der „Rulaman“ von Wunderlich, „Die Wurzelkinder“ von Schreiber/Esslingen, Zauberbücher und Spiele von Otto Maier, Ravensburg.

Zahlreiche Märchenbücher und Klassiker sind dabei. Vieles, was auch in der Nazizeit hatte verkauft werden dürfen. Schließlich können um die 1000 Titel auf Wanderschaft gehen nach Göppingen, Schwäbisch Gmünd, Ulm, Heidenheim, Ludwigsburg, Bad Mergentheim, Heilbronn und Pforzheim. Allerorts berichtet man von einer begeisterten „lesehungrigen Jugend“.

16 000 Besucher

In einer Stadt muss die Polizei den Zustrom der ungeduldigen Kinder bändigen, anderswo wird die Schau zeitweilig wegen Überfüllung geschlossen. Insgesamt zählt man mehr als 16 000 Besucher. Zu den Eröffnungen sprechen Wilhelm Hoffmann oder Dietrich Seckel, es gibt einen kleinen Tee-Empfang für die ortsansässigen Zelebritäten, dann dürfen die Kinder sich um „Struwwelpeter“, „Robinson Crusoe“ oder „Max und Moritz“ balgen.

Das Resümee fiel schließlich positiv aus: Alle bedauerten, wenn die „Jugend-Bücherstube“ schloss und weiterzog. Die Antworten auf den verteilten „Merkzetteln“, die Buben und Mädel nach ihren Wünschen befragten, waren erwartbar gewesen, ebenso die gelegentlich beklagte Unruhe und Unfähigkeit zur Konzentration sowie das stärkere Interesse für die deutschsprachigen als für die 200 internationalen Kinderbücher. Vor allem ist davon die Rede, dass es der dauerhaften Einrichtung von Bibliotheken, besonders auch für Kinder, bedarf. Jella Lepmans Vision ist zumindest in diesem Sinn Realität geworden.