Nachdem Jan Neumann die Stadt Stuttgart betrachtet hat, widmet er sich nun ihren Menschen Foto: Lichtgut/Verena Ecker

Der Regisseur Jan Neumann hat sich auf die Suche nach Stuttgarts halbprominenten Töchtern und Söhnen gemacht, wundersame Biografien entdeckt und daraus das Stück „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ gemacht, das am Freitag im Kammertheater uraufgeführt wird.

Stuttgart - Die Prinzessin Feodora zu Hohenlohe-Langenburg langweilte sich buchstäblich zu Tode. Mit 19 heiratete sie einen steinalten Herzog, wurde daraufhin in die sächsische Provinz verfrachtet und vegetierte dort ihrem vorzeitigen Ende entgegen – mit 32 starb sie abgemagert und eingefallen an Scharlach. Was heute von ihr bleibt, ist nicht viel mehr als eine Randnotiz in Wikipedia. Klickt man in der „Liste von Persönlichkeiten der Stadt Stuttgart“ den Namen der Prinzessin an, stößt man auf eine wenig schmeichelhafte Charakterisierung der früh Verstorbenen: „Galt als verwöhnt, musisch desinteressiert und wenig intelligent.“ Na, vielen Dank.

Durch solche und ähnliche Lebensabrisse hat sich auch der Autor und Regisseur Jan Neumann geklickt, als er sich für „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ auf die Suche nach Stuttgarts halbprominenten Töchtern und Söhnen machte. Mithilfe ihrer Biografien erforscht er nun – in enger Zusammenarbeit mit seinen Darstellern – die Grauzone zwischen namenlos und berühmt. Im Fokus seines wundersamen Schauspiels, das am 20. Januar im Kammertheater uraufgeführt wird, stehen all jene Randfiguren, die zu ihrer Zeit zwar die Geschichte der Stadt prägten, heute jedoch dem Vergessen entgegen taumeln: die dank zu großer Nase verstoßenen Geliebten, die stolzen bürgerlichen Duz-Freunde des Königs, die emsigen Erfinder von Fliegenklatsche und Co. „Mich fasziniert die Vielzahl an ehemals Berühmten, die heute keiner mehr kennt. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Namen bleiben übrig. Das relativiert so viel“, sagt Neumann.

Auf der Bühne sollen die Schatten jener Stuttgarter Kinder noch einmal zurück ins kollektive Bewusstsein flackern. Anders als vor zwei Jahren, als Neumann mit seiner Stückentwicklung „Die Stadt das Gedächtnis“ der Verknüpfung zwischen Stadtarchitektur und Erinnerungskultur nachspürte, geht er in „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ den umgekehrten Weg: Nicht mehr die Stadt, sondern ihre Menschen sollen im Zentrum seiner Betrachtungen stehen. Nicht mehr der Moment, in dem sich die privaten Befindlichkeiten im öffentlichen Raum brechen, sondern der private Raum, der von Spuren des öffentlichen durchdrungen ist.

20 bis 25 halb vergessene Stuttgarter Biografien

Denn bei genauem Hinsehen lässt sich ja nicht einmal die Wohnung vor dem Eindringen der Welt beschützen. In den Bücherregalen flüstern Schriftsteller ihre Gedanken aus, die Holzdecke ist mit einem krebserregenden Schutzmittel versiegelt, auf dem Tisch in der Zimmermitte liegt eine Fliegenklatsche, die Erich Schumm einst erfunden, patentiert und als bahnbrechende Errungenschaft herumgereicht hat – ein Sammelsurium winziger Geschichtssplitter, die unbemerkt in der Selbstverständlichkeit jeder Alltagswelt stecken. Manche davon werden bei Neumann auf der Bühne zu sehen sein.

Zwischen 20 und 25 halb vergessener Stuttgarter Biografien will Neumann in sein Stück integrieren. Ausgehend von einem fiktiven Mordfall, führt er die Zuschauer in das verkommene Lebens-Sammelsurium des ebenfalls fiktiven E. Bauer. Ursprünglich hatte der Autor und Regisseur mit 46 verschiedenen Geschichten experimentiert. Doch dabei sei er schnell an die Grenzen des Erzählbaren gestoßen, räumt er ein: Eine ganze Lebensgeschichte in einen Halbsatz zu packen, sei den Biografien nicht gerecht geworden.

Neumanns liebste Entdeckung: ein fliegender Schuster

Als Neumann zu Beginn seiner Recherche besagte Wikipedia-Liste öffnete, war er nicht wenig überrascht.

Mehr als sechzig Seiten kurioser, dramatischer und bewegender Leben trotzten dort der Bedeutungslosigkeit, die meisten bis zur Skurrilität pointiert, der Rest von teils zweifelhafter Berühmtheit. So stehen die Gräueltaten des Euthanasie-Forschers Albert Riedmann unkommentiert neben der herzzerreißenden Beschreibung einer Opernsängerin, deren Stimme aufgrund fehlender Tonaufnahmen für immer verloren ist. Auch auf der Bühne will Neumann diese gegensätzlichen Geschichten nebeneinander stellen: Die Vielzahl präge das Bild. Und gerade eine Schreckensbiografie wie die von Albert Riedmann müsse man heute wieder erzählen.

Neumanns liebste Entdeckung bleibt jedoch der fliegende Schuster Salomon Idler. Im 17. Jahrhundert bastelte der sich ein paar Flügel und sprang damit von einer Anhöhe. Seine schmerzhafte Bruchlandung brachte nicht nur eine Brücke zum Bersten, sondern auch vier Hühner, die darunter im Gras pickten, den Tod. Aus Frust verbrannte der mutige Schuster seine Flügel und entschloss sich, Poet und Schauspieler zu werden. „Solche Geschichten erzählen immer etwas über unser Leben. Es sind Geschichten vom Scheitern, vom Fliegen, vom Abstürzen“, meint Neumann. Und ein Theaterabend sei schließlich immer dann groß, wenn das Stück im Kopf des Zuschauer stattfindet: „Man begegnet auf der Bühne vielleicht einer großen Fremdheit, aber genau dadurch kann man sich selbst neu erzählen.“

Die Uraufführung von „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ findet am Freitag, dem 20. Januar, statt. Weitere Vorstellungen am 21.01., 25.01., 27.01., 30.01.,31.01., 02.02., 06.02., 07.02., jeweils um 20 Uhr.