Spiel-Raum für Kinder: Seit den jüngsten Raketenangriffen der Hamas sind die Kindergärten von Yad Mordechai hinter Bunkermauern verschwunden. Foto: Reisinger

Viele Israelis wirken trotz der Bedrohung aus dem Gazastreifen gelassen. Selbst in manchen besetzten Gebieten entspannt sich das Neben­einander mit den Palästinensern. Von Frieden aber spricht niemand.

Gush etzion/Yad Mordechai - Zeit für die Wochenendeinkäufe in Gush Etzion. Im Supermarkt Rami Levy bilden sich lange Schlangen an Theken und Kassen. Darin steckt so ziemlich der ganze Bevölkerungsmix aus Israels besetzten Gebieten im südwestlichen Hinterland von Jerusalem. Palästinensische Hausfrauen warten geduldig neben israelischen Siedlern, deren religiöse oder politische Orientierung an unterschiedlichen Farben und Trageweisen der Kippa, der jüdischen Männerkopfbedeckung, abzulesen ist. Freundliche palästinensische Verkäufer beraten israelische Soldaten, die, mit Magazintaschen und Sturmgewehren behängt, ihre Plastiktüten füllen.

„Es ist wieder Normalität eingekehrt“, lächelt Myron Joshua. Er, US-stämmig mit deutschen Wurzeln, lebt seit 1971 im Kibbuz Kfar Etzion, einem Teil von Gush Etzion. Die religiös-zionistische Bewegung, der er angehört, ist weit älter als der Staat Israel und steht für gute Nachbarschaft mit den Palästinensern. „Manches hier geht etwas leichter“, erklärt Joshua, weil Gush Etzion zu den Orten gehört, bei denen es am wenigsten umstritten ist, dass sie im Fall einer Zwei-Staaten-Lösung bei Israel bleiben werden.

Dann wendet er sich kurz zur Seite und begrüßt einen Palästinenser, der sich gerade mit prallen Einkaufstüten durch die Express-Spur an den Kassen gemogelt hat. „Klar“, witzelt Joshua, „wie hättest du’s auch wissen sollen? Da drin ist ja alles nur in Hebräisch und Englisch beschriftet.“ Es folgt eine herzliche Verabschiedung, misstrauisch beäugt von einem jungen, zausebärtigen Siedler aus dem nahen Betar Illit, der am schnellsten wachsenden Siedlung in den von Israel besetzten Gebieten.

Israelis wie Palästinenser wollen ein normales Miteinander

„In den Wochen des Krieges“, so Joshua, „sind die palästinensischen Kunden von Rami Levy weggeblieben.“ Und Spannungen, auch gewaltsame Vorfälle gebe es all die Jahre immer wieder. Schnell schlügen Stimmungen um. „Als die drei israelischen Schüler im Juni entführt und ermordet wurden, hat es hier in der Gegend etwa 1000 Hausdurchsuchungen gegeben“, sagt Joshua. „Unmittelbar vor dem Krieg haben wir ein gemeinsames Gebet gehalten für die Entführten mit rund 100 jüdischen Siedlern und fast ebenso vielen muslimischen Palästinensern. Die Teilnehmer gerieten hüben wie drüben unter Rechtfertigungsdruck. Das ging bis zum Vorwurf des Verrats.“

Als wäre das alles nicht erst drei Monate her, geht es im Supermarkt um andere Themen: das Angebot, die Einkaufslisten, die – für deutsche Verhältnisse hohen, für israelische Verhältnisse günstigen – Preise, den Alltag. Joshua tritt in die grelle Mittagssonne vor dem Laden, schaut zurück. „Man muss das hier richtig einschätzen. Der Krieg kann jederzeit wieder ausbrechen. Aber Israelis wie Palästinenser zeigen diesen Ort, diese Normalität gerne her. Und das zeigt, dass es tief drin bei den meisten einen Wunsch nach einem normalen Miteinander gibt. Aber das wird dauern.“ Sagt’s und beißt in eine süße Apfeltasche.

In Yad Mordechai, 80 Kilometer weiter südlich, sind sie sauer. Richtig sauer. Auf die Hamas, die den nur sechs Kilometer entfernten Gazastreifen beherrscht und in diesem Sommer rund 5000 Raketen auf Israel verschossen hat. Und auch auf die eigene Regierung um Benjamin Netanjahu. Der Kibbuz Yad Mordechai gehört wie Kfar Etzion zu den Brennpunkten des israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1948. Orte voller Geschichten von Massakern an jüdischen Siedlern kurz vor der Staatsgründung, von Kämpfen, von Heldengedenken.

Kindergärten im Betonbunker

Nurit Livne tritt nicht auf wie eine Heldin. Mit müder Geste weist die Künstlerin, die vor 74 Jahren als erstes Kind in Yad Mordechai geboren wurde, auf die jüngsten Wunden, die der Krieg in ihren Kibbuz gefressen hat: drei monströse Gevierte aus hellen nagelneuen Betonstelen, mehr als vier Meter hoch. Enge Schleusen führen ins Innere. Drinnen steht jeweils ein Kindergarten. Plastiktraktoren, -bagger und -stühlchen umstehen jeweils eine schlumpfländische Hütte, über der eine wuchtige Betondecke schwebt. Halbdunkel, Enge, Muff. „Die Decken kamen nach dem Raketenhagel der Hamas 2011 drüber, die Wände haben wir jetzt, drei Wochen nach der Waffenruhe, aufgestellt“, sagt Nurit Livne. „Niemand hier hat noch Hoffnung auf Frieden. Wir stehen vor dem Nichts.“ Sie deutet auf die staubigen Freiflächen um die Zementriesen: „Da waren vor ein paar Tagen noch Rasen und Spielgeräte. 14 Jahre geht das schon so. Meine Enkelinnen sind mit den Raketen aufgewachsen. Sagen Sie, kann man Kinder unter solchen Umständen erziehen?“

Vorbei an akkurat gepflegten Blumenbeeten und Rasenstücken führt der Weg zu Nurit Livnes bescheidenem Kibbuz-Bungalow. Drinnen serviert Ehemann Uri Tee, Kaffee, Kekse. „Zum Glück haben wir erstmals keine Raketen abbekommen. Dieses Mal ging es der Hamas ja darum zu zeigen, wie weit sie inzwischen treffen kann“, sagt der Veteran, der 1967 im Sechstagekrieg als Fallschirmjäger kämpfte. Seine drei Söhne dienten später ebenfalls in Kampfeinheiten.

Die kleinen, klaren Augen blitzen, als er sagt: „Netanjahu und Verteidigungsminister Moshe Jaalon haben sich in diesem Sommer für eine moderate Kriegführung entschieden. Hätten wir aber unser Luftabwehrsystem Iron Dome (Eisenkuppel) nicht gehabt und wären viel mehr Israelis getötet worden, hätten sich jene durchgesetzt, die aus dem Gazastreifen einen Parkplatz machen wollen. Oder“, ein breites Grinsen geht über Livnes Gesicht, „wenn Wladimir Putin hier etwas zu sagen hätte.“

Und wie geht es weiter? – „Wir waren lange optimistisch“, sagt das Paar, „hofften auf den Oslo-Friedensprozess in den frühen neunziger Jahren, auf unseren Premierminister Jitzchak Rabin. Mit der Fatah von Jassir Arafat hatten wir uns arrangiert. Als politisch Linke haben wir die Rückgabe Gazas begrüßt, denn Gaza gehört den Arabern. Dann aber folgte Optimismus mit Erfahrung . . .“ Und jetzt? „Netanjahu führt uns in die Katastrophe“, sind sich beide einig.

Im Kibbuz ist die Ernte vertrocknet

Es sei der Kardinalfehler des Regierungschefs gewesen, den Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas zu schwächen. Den nehme keiner mehr ernst. „So hat Netanjahu die Hamas groß gemacht“, klagt Uri Livne. „Jetzt haben wir keinen mehr, mit dem wir über Frieden reden könnten. Es reicht nicht mal mehr zu mittelfristigen Absprachen.“

Seine Frau führt den Schutzraum des Hauses vor: zehn Quadratmeter, ein abgewetztes grünes Cord-Schlafsofa, ein prall gefülltes Bücherregal, schwere Stahlplatten. „Bei Raketenalarm haben wir 15 Sekunden Zeit, uns in Sicherheit zu bringen.“ Neu ist das schwere Holzbrett, um die Verriegelung des Schutzraums von innen zu blockieren. Als Nurit Livne davon erzählt, dass im nur einen Kilometer entfernten Kibbuz Nahal Oz vor wenigen Wochen Hamas-Kämpfer aus ihren Tunneln gekrochen seien, flackert ihr Blick. Grauen pur.

Und Ärger dazu. Während des Krieges sei die Ernte vertrocknet, jede Arbeit im Freien so nah am Gazastreifen unmöglich gewesen. „Vom Staat gibt es keine Hilfe“, schnaubt Uri Livne. „Wir Kibbuz-Leute helfen uns gegenseitig, aber die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe in der Gegend können dichtmachen.“ In den besetzten Gebieten sehe das anders aus. „Da kommt Hilfe, und wer zusätzliches Land bewirtschaften will, kriegt sofort die Bewilligung. Das ist Netanjahus Siedlungspolitik.“

Als seine Gattin vor die Haustür tritt, zersaust der heiße Wind ihre kurzen hellgrauen Haare. Für einen Moment wendet sie ihren Blick nach Süden, Richtung Gaza. Fast beiläufig sagt sie dann: „Es ist nicht so, dass mir die da drüben nicht leidtun. Ich weiß doch: Die Mütter und Großmütter dort empfinden genau wie ich.“