Gut oder böse? Das verfremdete Foto zeigt Al-Nusra-Kämpfer, die ihre Fahne auf einem Hubschrauber der syrischen Streitkräfte hissen. Foto: Edlib News Network ENN

Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichtes müssen entscheiden, ob Angehörige einer Terrororganisation deshalb freizusprechen sind, weil sie gegen den Islamischen Staat kämpften.

Stuttgart - So soll ein Terrorist aussehen? Hageres Gesicht, in dem spärlich Bartstoppeln sprießen. Oberarme so dünn wie die unteren. Wenn der junge Mann seine Arme auf den zierlichen Oberkörper legt, dann wirkt das, als legte er sich einen Panzer an. Sein Blick hetzt durch den Gerichtssaal. Tränen füllen die Augen, als er einmal Bekannte in den leeren Zuschauerreihen sieht. Mit messerfuchtelnden Kerlen in den Enthauptungsvideos hat Khalifa S. äußerlich ganz bestimmt nichts gemein.

Und trotzdem, ist Baden-Württembergs Generalstaatsanwalt überzeugt, Khalifa S. ist ein Terrorist: Zunächst habe er sich der Freien Syrischen Armee (FSA) angeschlossen, spätestens im August 2013 nahe der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor der Terrororganisation Jabhat al-Nusra (JaN). In ihren Reihen soll er mehrfach gegen den Islamischen Staat (IS) gekämpft haben, bevor er im Mai 2015 desertierte. S. floh zunächst in die Türkei, kehrte mindestens zweimal in seine syrische Heimatstadt Hajin zurück, setzte sich dann endgültig im Spätsommer 2015 erst in die Türkei, dann nach Deutschland ab.

Im Oktober 2015 fanden Reinigungskräfte in einem Zug zwischen Görlitz und Dresden Ausweispapiere, Zeugnisse und eine Speicherkarte. Auf ihr zahlreiche Fotos: Sie zeigen Khalifa S. mit Waffen, in Tarnkleidung, vor und mit Symbolen der JaN. All das streitet der 25-jährige nicht ab. Im Gegenteil: Ja, er habe für die JaN gegen den IS gekämpft. „Daran ist doch nichts falsch“, sagt er. Zumal er von den Schergen der JaN erst gefoltert und dann gezwungen worden sei, sich ihnen anzuschließen. Verteidiger Daniel Wolff sekundiert: Sein Mandant sei bei erstbester Gelegenheit desertiert und geflohen.

Freispruch?

Der dritte Strafsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichtes steht vor einer schwierigen Entscheidung: Ist ein Terrorist, der gegen andere Terroristen kämpft, ein guter Terrorist? Und ist er deshalb freizusprechen?

Hilfe bei dieser Frage erhofften sich die Richter auch von einer Kriminaloberkommissarin des Bundeskriminalamtes. Seit November 2011 analysiert sie die Lage in Syrien. Mit einem Gutachten, das offenbar nicht mehr aktualisiert wird, denn die Beamtin weiß nichts davon, dass der Gründer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi im August 2011 seinen Vertrauten, den Syrer Mohammad al-Golani, mit einem klaren Auftrag aus dem Irak nach Syrien schickt: Er sollte dort die JaN als Flügel des IS aufbauen. Der soll „das Assad-Regime zerstören, die syrische Gesellschaft in eine islamische Theokratie überführen und den Vorläufer eines Gottesstaates etablieren“, erklärt Joshua Landis. Der Professor lehrt an der Universität von Oklahoma Islam- und Politikwissenschaften – und forscht seit Jahren intensiv zu den islamistischen Gruppen in Syrien.

Die Grenze dorthin überschritt JaN-Anführer al-Golani im September 2011 genau dort, wo sich der Angeklagte Khalifa S. wenig später den Aufständischen anschloss: Mit seinen sechs Getreuen schlich der Terroristenchef bei Abu Kamal über die Grenze. Seine ersten Nächte verbrachte er in Khara’ij – nur fünf Kilometer nördlich von S.’ Heimatstädtchen Hajin entfernt. Die Region zwischen Abu Kamal und Deir ez-Zor, sagt Landis, „war seit Mitte der 2000er Jahre Rückzugs- und Organisationsgebiet der irakischen Dschihadbewegung. Die Region wurde von syrischen Muslimbrüdern kontrolliert, die von hier aus Waffen- und Munition in den Irak schmuggeln ließen.“

Landis Meinung bestätigen Einwohner Hajins Reportern unserer Zeitung. Sie leben heute in der Türkei, in Jordanien und in Syrien. Wie der Arzt Jassim Rajab al-Obeidi, der heute in Jordanien lebt. „Als die Revolution nach Deir ez-Zor und dann nach Hajin kam, fiel ihre Saat auf den Boden, den die Muslimbrüder bereitet hatten: Schnell bildeten sich in vielen Dörfern 30, 40 Mann starke Kampfgruppen. Auch wenn sie zunächst als FSA auftraten, hatte ich keinen Zweifel, dass es sich um Muslimbrüder handelte.“

Ein Seitenhieb des Richters

Das sagt auch Abdul Latif, der in Hajin einen kleinen Laden betrieb, bevor er 2015 ins türkische Gaziantep floh: „Alleine der Name ‚Märtyrer von Hajin‘ machte uns klar, wessen Programm hier verwirklicht werden sollte: das der Islamisten: Zu Beginn unserer Revolution dachten wir an ein besseres irdisches Leben und nicht ans himmlische Paradies. Der Umschwung in Hajin war unblutig. Es gab schlicht keine Märtyrer.“

Aymenn Jawad al-Tamimi analysiert seit sechs Jahren den Heiligen Krieg, den Terroristen in Syrien führen. Er arbeitet für die US-Denkfabrik Middle East Forum, promoviert an der Universität von Oxford. Im Dezember 2013 veröffentlichte er einen Aufsatz, in dem er nachweist, wie sich in der Region zwischen Abu Kamal und Deir ez-Zor die Islamisten ihres Tarnumhanges FSA entledigten und bereitwillig dem schwarzen Banner der JaN folgten. „Dazu wurde niemand gezwungen und erst recht niemand gefoltert. Die hatten mehr Freiwillige, als sie brauchen konnten“, erinnert sich Arzt al-Obeidi. Die Analystin beim BKA weist auf dies alles nicht hin.

Wohl auch deshalb erlaubt sich der Vorsitzende Richter Hartmut Schnelle einen Seitenhieb, nachdem eine Ermittlerin des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg kompetent und gut vorbereitet ihre Erkenntnisse vorgetragen hatte: „Sie haben einen exzellenten Ermittlungsbericht vorgelegt. Es wäre schön, wenn Sie den einmal als Muster nach Berlin schicken würden.“ Die Ermittler dort konnten auch die Rätsel nicht lösen, die einige der gefundenen Bilder den Richtern aufgeben. Eines zeigt den lachenden Khalifa S. mit den Resten einer Boden-Boden-Rakete auf der Schulter. Im Hintergrund ist die markante Brücke über den Euphrat zu sehen, die Deir ez-Zor mit ihren nordwestlichen Vororten verband. Warum er nach Westen ziele, will eine der Richterinnen wissen, da sei der IS doch gar nicht gewesen. Der Beschuldigte spricht von Albereien.

Erkennungszeichen von Islamisten

Auf Satellitenfotos allerdings ist die Stelle eindeutig zu lokalisieren, an der S. seine Späße getrieben haben will. 300 Meter entfernt, so zeigen es Lagekarten der oppositionsnahen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte und des Bloggers PetoLucem, waren Stellungen syrischer Regierungstruppen im Stadtteil Ghazi Ayaash. Andere Bilder zeigen S. verbarrikadiert hinter Sandsäcken an einem Maschinengewehr. Handgranaten liegen griffbereit. Diese Stellung, sagt Blogger Peto Lucem, sei das in einer Schule untergebrachte JaN-Hauptquartier. Direkt an der Frontlinie zum heftig umkämpften Ghazi Ayaash. Wer den Darstellungen von Khalifa S. glaubt, der wähnt diese Stellung im nirgendwo. Und vor allem gegen den IS gerichtet.

„Was Sie da sagen, hört sich wie ein Märchen an“, sagt Richter Schnelle einmal. Ein anderes Mal rät er S., noch mal in sich zu gehen, ob der erhobene Zeigefinger, den er auf vielen Bildern in den Himmel streckt, wirklich zum Gebetsritual der Muslime gehöre. Der Mussabiha genannte Fingerzeig symbolisiert die Einzigartigkeit Allahs – und ist bei Islamisten und Dschihadisten zu einem Erkennungszeichen geworden. Das passt zu den Liedern auf einem der Handys, die Ermittler bei S. fanden. In einem werden die gefeiert, die den Sprengstoffgürtel nehmen und „direkt ins Paradies gelangen, wo die jungen Frauen sind“. In einem anderen wird Osama bin Laden gehuldigt. Heute halten Staatsanwalt und Verteidiger ihre Plädoyers. Kommenden Dienstag wollen die Richter urteilen: im Verfahren guter Terrorist gegen böser Terrorist.