IOC-Präsident Thomas Bach: Ein Berg von Problemen beim Blick in die Zukunft Foto: dpa

IOC-Präsident Thomas Bach spricht im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten unter anderem über die Krise der Olympischen Spiele und den Doping-Skandal um Russland.

Stuttgart - Der Vorwurf lautet: Zu teuer, zu monströs und dopingverseucht. Thomas Bach, Präsident des Internationalen Komitees (IOC), nimmt im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten Stellung – und kündigt Änderungen an.

Herr Bach, seit vergangenem Sommer reißt die Kritik an Ihnen und am Internationalen Olympischen Komitee nicht ab.
Das ist so, ganz besonders in Deutschland erfreue ich mich der besonderen Aufmerksamkeit Ihrer Kollegen. Aber wir sind uns in allen unseren Entscheidungen sicher, sie werden international breit mitgetragen und unterstützt. Da erträgt man die Kritik dann leichter.
Wie werden die strittigen Themen innerhalb des IOC diskutiert?
Es herrscht da eine große Einigkeit. Und die hat sich in den vergangenen Wochen noch verstärkt. Unterstützung erfahren wir aus der gesamten Olympischen Bewegung aber auch in vielen Gesprächen mit Athleten und politisch Verantwortlichen.
Die olympische Idee steckt in der Krise, der Nutzen Olympischer Spiele ist möglichen Gastgebern kaum mehr zu vermitteln. Zuletzt ist Budapest ausgestiegen.
Budapest ist ja nicht der einzige Rückzug: Es gibt ein größeres Bild, in dem ein Muster zu erkennen ist. Bei den meisten dieser Abstimmungen kann man zwei Faktoren feststellen: Der Rückzug hat entweder in großen Teilen oder überhaupt nichts mit Olympia zu tun, es sind politische Themen, die im jeweiligen Land eine Rolle spielen. Dort finden sich Gesellschaften neu. Die Bewerbungen sind Ziel von Anti-Establishment-Bewegungen, die wir in vielen europäischen Ländern haben.
Auch in der Schweiz?
Die ist sogar ein sehr gutes Beispiel. Die mögliche Kandidatur von Graubünden haben dort die Regierung, alle bis auf eine Partei, der Wirtschaft- und Tourismusverband sowie das gesamte Establishment unterstützt. Dann wurde sie niedergestimmt. In Budapest war es ähnlich. Da kam es erst gar nicht mehr zum Referendum. Und wir, die Olympischen Spiele und das IOC, werden eben auch als Teil dieses Establishments begriffen. Da dringt man mit Fakten und Argumenten nicht mehr durch.
Das IOC bietet ja auch genügend Angriffsflächen. Die Olympischen Spiele sind zu teuer.
Auch was die Kosten anlangt, müssen wir feststellen, dass wir mit den Fakten nicht überzeugen können.
Welche Fakten?
Dass die Organisation der Olympischen Spiele in der Regel entweder profitabel ist oder aber eine rote oder schwarze Null aufweist.
Dessen ungeachtet lautet der Vorwurf: Das IOC stopft sich auf Kosten der Gastgeber die Taschen voll.
Tatsache ist: Wir stecken 90 Prozent unserer Einnahmen in die weltweite Entwicklung des Sports. Olympia ist eines der größten Solidaritätsprogramme mit dem Fokus auf Sport und Erziehung. Außerdem haben wir beispielsweise die Olympischen Spiele in Rio mit 1,5 Milliarden US-Dollar (An. D. Red.: 1,4 Milliarden Euro) unterstützt. Für die Spiele im Jahr 2024 wird diese Unterstützung noch einmal erhöht.
Es bleibt dabei: die Negativmeldungen überwiegen
Weil wir mit diesen Zahlen und Tatsachen eben nicht durchdringen. Das ist bedauerlich, aber wir werden trotzdem nicht müde. Wir sind damit ja nicht alleine. Die allgemeine politische Situation lässt einen Dialog oder Auseinandersetzung mit Argumenten offenbar nicht mehr zu. Es prallen in der Öffentlichkeit nur noch Schwarz und Weiß aufeinander.
Unbestritten ist: Olympia hinterlässt zu oft Sportstätten, die zu Bauruinen werden oder der Umwelt schaden.
Die von mir initiierte Olympische Agenda findet erstmals voll Anwendung bei den Olympischen Sommerspielen 2024. Wir haben trotzdem versucht, sie schon jetzt einzuspeisen. Zum Beispiel haben wir den Organisatoren der Winterspiele 2018 in Pyeongchang gesagt, dass wir sie im Sinne der Agenda davon entpflichten, eine Bob- und Rodelbahn zu bauen. Wir haben ihnen sogar geraten: Baut keine, geht damit in ein anderes Land. Das hat fast zu einem Aufstand geführt.
Mit welchen Argumenten?
Man sei die Verpflichtung eingegangen und wolle sich nicht nachsagen lassen, dass man dieser nicht nachkomme. Außerdem bestand die Sorge, man müsse dann mit den Bob- und Rodelwettbewerben nach Japan. Und wer weiß, wie die beiden Länder zueinander stehen, versteht, dass da wenig Interesse bestand. Wir haben auch angeboten, alpine Rennstrecken zu verlegen. Ohne Erfolg.
Und was ist mit den leeren Olympia-Bauten in Rio?
Die Nachnutzung wird jetzt erst vorbereitet. Der Olympiapark in London war ein Jahr lang nach den Olympischen Spielen geschlossen. So lange hat man gebraucht, um ihn anzupassen. Die Zeit sollte man auch den Brasilianern geben. Es braucht Zeit, um eine Handballhalle in vier Grundschulen umzubauen. Als positives Beispiel wird ja immer London genannt. Man könnte München hinzufügen, Barcelona, Atlanta, Sydney und - entgegen des öffentlichen Bildes - in Teilen auch Athen, wo die Infrastruktur maßgeblich profitiert hat, während es bei den Sportstätten Probleme gibt. Peking sowieso, da gibt es jetzt auch noch mal die Nachnutzung über die Winterspiele 2022.
War Olympia in Brasilien ein Missverständnis?
Man muss das ganze Bild sehen. Das ist wie in München 1972. München hätte vielleicht heute noch keine U-Bahn ohne die Olympischen Spiele. Und Rio hätte kein funktionierendes öffentliches Nahverkehrssystem. Vor den Sommerspielen hatten 18 Prozent der Bürger in Rio Zugang zu einem ordentlichen Nahverkehrssystem, jetzt sind es 63 Prozent. Zehntausende profitieren also Tag für Tag vom Erbe der Spiele. Dazu kommt ein neu gestaltetes altes Hafenviertel, zig Hotels mit ihren Arbeitsplätzen, die Guanabara Bay ist zwar nicht perfekt, aber viel sauberer als zuvor, weil das eingeleitete Schmutzwasser nun vorher geklärt wird. Die Handball-Halle wird in Schulen umgebaut. Der Bürgermeister von Rio hat neulich etwas gesagt, was für das IOC genauso gilt: Man habe nie behauptet, mit Hilfe der Olympischen Spiele alle politischen und sozialen Probleme in Rio lösen zu können. Aber durch die Spiele konnten Investitionen getätigt werden, von denen die Einwohner Rios 50 Jahre lang nur träumen konnten.
Und die Sportstätten?
Der Golfplatz ist jetzt der erste öffentliche Golfplatz des Landes, bestimmte Gebäude werden schon genutzt, andere noch nicht. Da will ich für die Brasilianer um Verständnis werben. Probleme bleiben, auch weil sich das Land insgesamt in einem desaströsen Zustand befindet und Nachnutzungsprogramme möglicherweise nicht so schnell oder gar nicht umgesetzt werden.
War allein schon die Olympia-Vergabe nach Brasilien ein Fehler?
Nein, da bitte ich auf den Vergabetermin 2009 zurückzublicken. Damals sprach die ganze Welt von den Brics-Staaten unter der Führung Brasiliens. Man sagte dem Land voraus, unter die führenden fünf oder sechs führenden Volkswirtschaften der Welt aufzusteigen.
Wie lassen sich in Zukunft solche Situationen vermeiden?
Das war ja mit ein Grund, warum wir die Olympische Agenda 2020 verabschiedet haben. Wir wollen von vorherherein, mit Beginn der Kandidatur, den Nachhaltigkeitsaspekt in den Vordergrund rücken. Das bedeutet: Die Priorität liegt auf bereits vorhandenen Sportstätten. Wenn es solche nicht gibt, sollte über temporäre Sportstätten nachgedacht werden, und wenn auch dies nicht als machbar erscheint, dann kann auch in eine andere Stadt oder sogar in ein anderes Land ausgewichen werden. Ohne die Olympische Agenda 2020 hätten wir für die Spiele 2024 keinen einzigen Kandidaten.
Im Rennen sind Paris und Los Angeles.
Dort muss kaum etwas gebaut werden. In Los Angeles ist alles da, selbst das Olympische Dorf, das in großen Universitäten untergebracht würde. Paris braucht ein Schwimmbad, das in einer unterprivilegierten Gegend entstehen soll. Das Olympische Dorf will die Stadt in Saint-Denis bauen, wo günstige Wohnungen dringend gebraucht werden.
Trotzdem haftet Olympia der Eindruck des Monströsen an.
Die Olympische Agenda 2020 nimmt sich der Kosten der Organisation der Spiele an und der Nachhaltigkeit. Was wir nicht vorausgesehen haben, ist die Veränderung des Prozesses der Kandidatur, sprich: Die Inanspruchnahme der Spiele durch politische Anti-Establishment-Bewegungen. Die haben es an sich, dass sie nicht mit Fakten, sondern mit Schlagworten arbeiten- wie Gigantismus oder Geldverschwendung. Das können wir beklagen, aber nicht ändern. Deshalb müssen wir selbst was tun.
Mehr Transparenz wäre ein Anfang.
Das Bewerbungsverfahren ist für die derzeitigen politischen Verhältnisse in Europa tatsächlich nicht mehr zeitgemäß.
Sie brauchen eine neue Agenda, diesmal fürs Verfahren?
Europa ist der Kernkontinent der olympischen Bewegung. Es wäre nicht klug, das zu ignorieren. Das Verfahren, so wie es ist, produziert zu viele Verlierer. Weil es diese Tendenz gibt, sinkt die Zahl der Bewerber. Wir wollen aber die bestmöglichen Gastgeber für die Olympischen Spiele finden. Früher haben sich Städte wie Paris oder Buenos Aires vielfach beworben. Das ist heute nicht mehr durchsetzbar. Die meisten von denen, die ausgeschieden sind, verabschieden sich aus dem Bewerbungsprozess. . .
. . . auch, weil die Kosten zu hoch sind.
Dieser Kreis muss durchbrochen werden. Wir können gerade von Bewerbern, die vielleicht zum zweiten Mal antreten, nicht verlangen, dass sie das komplette Verfahren noch einmal von Null beginnen. Da müssen wir die Planungskosten reduzieren. Was wir bei der Bewerbung für die Winterspiele 2026 schon anwenden wollen: Jede Anlage, auf der eine Weltmeisterschaft oder ein Weltcup stattgefunden hat, gilt als genehmigt. Das wird die Diskussionen der nächsten Zeit im IOC bestimmen.