Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Gökay Sofuoglu, erwartet von den Deutsch-Türken, dass sie sich stärker engagieren Foto: dpa

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, übt nach dem Ausgang des Referendums in der Türkei Selbstkritik und sagt, was die Migrantenvereine künftig besser machen müssen, um die Menschen zu erreichen.

Stuttgart - Warum haben so viele Deutsch-Türken für ein System gestimmt, dass dem türkischen Präsidenten Erdogan zu großer Machtfülle verhilft? Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Gökay Sofuoglu, übt Selbstkritik.

Herr Sofuoglu, wie tief sitzt bei Ihnen der Schock über den Ausgang des Türkei-Referendums?
Da sind mehrere Gefühle gleichzeitig: Enttäuschung, Ärger, Angst, aber auch Respekt vor den 49 Prozent der Wähler, die gegen die Autokratie gestimmt haben, obwohl sie überhaupt keine Möglichkeit hatten, Wahlkampf zu führen. Wichtig ist jetzt, zu Besonnenheit zurückzufinden. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, mit der wir fertig werden müssen.
Viele Betrachter sind besonders geschockt, weil eine Mehrheit der Deutsch-Türken für Erdogans Präsidialsystem gestimmt hat. In Freiheit leben und gegen Freiheit stimmen, wie passt das zusammen?
Erdogan hat viel investiert, um die hier lebenden Türken zu beeinflussen – sowohl an Zeit als auch an Geld. Er hat Europa gezielt zum Feind erklärt. Wenn solche Aussagen täglich acht Stunden lang in 40 türkischen Sendern ausgestrahlt werden – auch in Deutschland –, dann hat das natürlich eine Wirkung. Viele Leute haben sich von Erdogans aggressiver Rhetorik reinlegen lassen. Das reicht als Erklärung allerdings nicht aus: Ich muss heute selbstkritisch einräumen, dass wir als Migrantenvereine in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. Wir waren zu sehr auf die Opferrolle fokussiert. Wir haben zuviel Verständnis für diejenigen aufgebracht, die sich aus allem heraushalten.
Wie meinen Sie das?
Schauen Sie sich das Wahlverhalten an. Bei Bundestags- oder Landtagswahlen liegt die Beteiligung von Türkischstämmigen mit deutschen Pass nur bei rund 20 Prozent. Wir müssen uns fragen, warum sich diese Menschen so wenig für die Politik in Deutschland interessieren, obwohl diese Politik ihren Alltag mitbestimmt – jedenfalls sehr viel stärker als die Politik in der Türkei. Das ist ein trauriger Befund, der den Migrantenvereinen zu denken geben muss. Wir haben nicht deutlich genug rüber gebracht, warum es wichtig ist, sich in diese Gesellschaft einzubringen.

„Deutsch-Türken müssen sich stärker engagieren“

Was sagt das Abstimmungsverhalten aus über den Stand der Integration?
Es gibt hier Türken, die seit 50 Jahren hier leben und gar nicht wählen dürfen – auch nicht auf kommunaler Ebene, weil sie keinen deutschen Pass haben. Die Schlussfolgerung muss lauten: Mehr Beteiligung. Zugleich erwarte ich von den Deutsch-Türken, dass sie sich selbst stärker engagieren. Wir brauchen eine Willkommenskultur und gleichzeitig eine Kultur der Migranten, die sagt: „Ja, ich will!“
In Württemberg gab es besonders viele Ja-Stimmen. Warum ausgerechnet hier?
Viele Türkischstämmigen haben das Gefühl, in Deutschland buchstäblich nicht anzukommen – egal, was sie tun. Diese Gefühle hat Erdogan geschickt manipuliert.
Sie haben kritisiert, dass es zu wenig Migranten in Führungsposition gibt – gerade in Stuttgart. Ist Ihre Forderung noch aktuell?
Sie ist aktueller denn je. Schauen sie sich die großen Unternehmen in der Region an. Dort sind Führungsposition selbstverständlich international besetzt. Vielfalt führt zu Erfolgen – das zeigt sich auch in der deutschen Nationalmannschaft. Bei den Stadtverwaltungen herrscht in dieser Hinsicht Fehlanzeige. Das liegt zum Teil auch daran, dass nur wenige Migranten Verwaltungshochschulen besuchen. Auch hier sind die Migranten gefordert. Ihnen muss klar werden, dass sie die Stadt in der sie leben, mit gestalten und verwalten können.
Von Rechtsaußen ertönt der Ruf nach Sanktionen: Türken, die für Erdogan gestimmt hätten, sollten Deutschland verlassen . . .
Dazu ist nur so viel zu sagen: Es wäre fatal, wenn die deutsche Innenpolitik und Migrationspolitik indirekt von Erdogan diktiert würde.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie als Vorsitzender der türkische Gemeinde persönlich aus dem Abstimmungsergebnis?
Weitermachen und nicht aufgeben – gerade auch in Deutschland. Für unsere Arbeit als türkische Gemeinde ist es wichtig, dass wir den Menschen die Errungenschaften der Demokratie nahe bringen und ihnen klar machen, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist. Daran hat es bisher gefehlt. Wir müssen endlich aus der Opferrolle raus und den Willen aufbringen, dieses Land mitgestalten zu wollen.