Wie soll der dringend benötigte soziale Wohnraum geschaffen werden? Mit privatem Kapital, sagt Gemeindetags-Chef Kehle Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Fast 30 000 Flüchtlinge sind im September ins Land gekommen. Die Städte und Gemeinden stoßen an ihre Grenzen. Gemeindetagspräsident Roger Kehle warnt vor einem Kippen der Stimmung.

Herr Kehle, hat Ihr Bürgermeister schon gefragt, ob Sie Zimmer für Flüchtlinge haben?
Nein, er war bisher nicht da. Aber ich verstehe den Hintergrund dieser Frage sehr gut.
Angesichts des Zustroms werden die Unterbringungsmöglichkeiten in vielen Gemeinden knapp. Die Ängste der Bürger vor der Beschlagnahmung von Wohnraum werden größer.
So ist es. Ich habe zuletzt mit vielen Bürgermeistern über dieses Thema gesprochen, und wir waren uns alle einig: Die Beschlagnahmung wäre die völlig falsche Maßnahme zu diesem Zeitpunkt. Denn die Stimmung in der Bevölkerung ist schon jetzt fragil.
Das dürfte sich noch verstärken. Statt 800 000 sollen dieses Jahr bis zu 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland kommen.
Ich kenne diese neuen Zahlen, und wenn es so kommen sollte, weiß ich heute noch nicht, wie man das bewältigen soll. Denn es besteht das Recht auf Familiennachzug, und das könnte bedeuten, dass es bis zu sieben Millionen werden. Deshalb muss alles vermieden werden, dass die Stimmung sich weiter verschlechtert und die noch vorhandene Willkommenskultur aufhört.
Die Bundeskanzlerin hat gesagt, Deutschland schaffe diese Herausforderung. Inzwischen sinken ihre Umfragewerte, wohingegen die von Horst Seehofer steigen, der Grenzen der Belastbarkeit erreicht sieht.
Wir müssen die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Und wir dürfen, wie es Grün-Rot immer sagt, nicht nur auf Sicht fahren und die Probleme irgendwie tagtäglich lösen. Wir brauchen vielmehr eine Gesamtstrategie, die wir der Bevölkerung erklären können und aus der klarwird, dass die Bürger dem Handeln der Politik vertrauen können.
Dieses Vertrauen schwindet aber.
Dann müssen wir es schnellstens zurückgewinnen. Ohne das Grundvertrauen der Bürger, dass wir diese Krise meistern, haben wir keine Chance, das Heft des Handelns zu behalten. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wir können uns auch keine langatmigen Diskussionen mehr erlauben, welche baurechtlichen Standards nun gesenkt werden müssen. Wir müssen schnellstens handeln.
Was ist nötig?
Es zeichnet sich doch ab, dass wir in den nächsten Monaten Tausende, nein Zehntausende Wohnungen brauchen. Mal finden wir sie in leerstehenden Gebäuden, mal müssen sie gebaut werden. Unsere aktuellen Verfahren mit Bebauungsplan, Baugesuch, Behördenanhörung sind aber zu aufwendig und dauern ein bis zwei Jahre. Das ist viel zu lang. Wir als Kommunen werden deshalb jetzt den politischen Druck erhöhen und fordern geänderte Rahmenbedingungen.
Ihr Vorschlag?
Abbau der Bürokratie, Vereinfachung der Genehmigungen und eine neue Form der Wohnbaufinanzierung. Angesichts der Massen an Flüchtlingen, die schon da sind und noch zu uns kommen, wird der Um- und Neubau von Häusern und Wohnungen nicht allein durch öffentliche Gelder möglich sein. Um diese Herausforderung zu meistern, braucht es privates Kapital. Ich schlage deshalb vor, dass der Bund ein Steuersparmodell auflegt. Dann kann mit dem Geld von privaten Investoren die Lage auf dem Wohnungsmarkt entspannt werden. Das gilt für Neubauten, aber auch für die Sanierung von Altbauten gerade in ländlichen Regionen.
Angesichts dieser Lage muss Ihnen angst und bange werden, wenn Ministerpräsident Kretschmann sagt, das Boot sei nie voll.
Ich frage mich: Ist es tatsächlich in unserer Verfassung so geregelt, dass alle Bürgerkriegsflüchtlinge bei uns unterkommen können? Ich bin anderer Auffassung. Natürlich gibt es ein Grundrecht auf Asyl, das es zu schützen gilt. Ich meine aber, dass es eine politisch zu definierende Obergrenze geben muss. Die Politik wird sich dieser Frage in den nächsten Tagen widmen müssen. Angesichts von 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, sind wir sonst irgendwann nicht mehr Herr des Verfahrens.
Was macht das Thema Flüchtlinge mit der Gesellschaft, mit der Bürgerschaft?
Uns muss es ja nicht nur darum gehen, die Menschen aufzunehmen, sondern sie auch zu integrieren. Das ist eine riesige Aufgabe, die die ganze Bevölkerung fordern und unsere Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten nachhaltig verändern wird. Das kann man nicht nebenher erledigen. Es ist zwar schön, welche Willkommenskultur es bei uns derzeit gibt und wie sehr sich Bürger ehrenamtlich engagieren. Aber beides wird bald an seine Grenzen stoßen, weil die Integration der Flüchtlinge noch Jahre dauern wird.
Nochmals: Frau Merkel sagt: Wir schaffen das.
Als sie das gesagt hat, war die dramatische Entwicklung nicht absehbar. Sie hat es sicher als Ermutigungszeichen gemeint.
Übernehmen wir uns mit dieser Aufgabe?
Ich habe vergangene Woche ein langes Gespräch mit einer Lehrerin geführt, an deren Schule viele Flüchtlingskinder sind. Sie hat mir erklärt, wie schwierig es ist, diese Kinder – ohne Sprachkenntnisse und aus einer anderen Kultur stammend – in Vorbereitungsklassen zu unterrichten. Und sie hat mir klargemacht, wie viele Lehrkräfte es dafür braucht. Insofern stimme ich Kultusminister Stoch völlig zu, der ja in Ihrer Zeitung am Montag gesagt hat, dass er Hunderte von weiteren Lehrern braucht, um die Flüchtlingskinder unterrichten zu können. Da tut sich ein weiteres, riesiges Problemfeld auf.
Die ganze Gemengelage ist wie dafür gemacht, dass rechte Parteien verstärkt Zulauf erfahren.
Die Politik betont, dass das Thema Flüchtlinge zu bedeutend ist, als es im Wahlkampf zu instrumentalisieren. Aber die Menschen in unserem Land erwarten jetzt zu Recht Auskünfte der Parteien, wie sie mit dem Problem der Flüchtlingsmassen umgehen wollen. Man kann das Thema nicht gänzlich aus dem Landtagswahlkampf heraushalten. Meine Sorge ist aber groß, dass wir vor allem am rechten Rand des Parteinspektrums eine Bewegung bekommen, die zu stark wird. Deshalb muss man die Sorgen der Menschen ernst nehmen und darüber sprechen. Das Verschweigen von Tatsachen wäre ein großer Fehler. Parallel dazu müssen wir den Flüchtlingen klarmachen, dass sie willkommen sind, aber dass es hier einen Rechtsstaat, kulturelle Grundlagen und einen Wertekanon gibt, der zu beachten ist. Darauf muss man hinweisen, ohne Schaum vorm Mund.
Der Bundespräsident sagt, es gebe Grenzen beim Thema Flüchtlinge. Sehen Sie das auch so?
Ja, Joachim Gauck hat die Debatte in eine richtige Richtung gelenkt.