Viele Menschen nehmen sich zu Beginn eines Jahres vor, gesünder zu essen. Foto: dpa-Zentralbild

Mehr Sport treiben, endlich abnehmen und weniger Süßes essen: Der Psychologe Walter Mischel erklärt, wie man die guten Vorsätze für 2016 auch halten kann.

Stuttgart - Viele Menschen haben Vorsätze fürs neue Jahr, zum Beispiel mehr Sport zu treiben. Warum sind die Fitnessstudios Anfang des Jahres voll und ein paar Wochen später wieder leer?
Das Problem ist: Wir wissen, dass Sport gesund ist. Aber das ist abstrakt und weit in der Zukunft. Wenn wir im Jetzt an irgendetwas mehr Spaß haben, dann verleitet uns das, auf den Sport zu verzichten. Die Lösung ist eine einfache „Wenn – dann“-Verknüpfung: Wenn ich morgens aufstehe, mache ich Sport. Wenn man das eine Weile eingeübt hat, dann automatisiert man das – wie Zähneputzen vor dem Zubettgehen.
Viele Menschen haben auch Probleme, beim Essen Verlockungen zu widerstehen . . .
Wenn ich in ein Restaurant gehe und die Entscheidung treffe, dass ich kein Dessert essen werde, dann hilft mir persönlich das kein bisschen. In dem Moment, in dem der Kellner mit einem Tablett Mousse au Chocolat kommt, wird es sehr schnell in meinem Mund verschwunden sein. Also brauche ich einen sehr konkreten „Wenn – dann“-Plan, etwa: „Wenn die Dessert-Frage aufkommt, werde ich den Fruchtsalat bestellen.“ Es hilft enorm, Strategien zu kennen, mit denen man das heiße System kontrollieren kann.
Was ist das heiße System?
Es gibt zwei eng miteinander verbundene Systeme im Gehirn. Das heiße entstand viel früher in der Evolution. Es ist der primitive Teil, limbisches System genannt. In seinem Inneren ist die mandelförmige Amygdala. Sie ruft starke Emotionen hervor, sowohl der Freude als auch der Angst. Im Beispiel mit den Süßigkeiten: die Lust auf deren Geschmack. Später in der Evolution entwickelte sich das kalte System. Auch beim Kind reift es später heran als das heiße System. Das kalte System befindet sich im präfrontalen Kortex, also direkt hinter der Stirn. Damit analysieren wir, können die Folgen unserer Handlungen abschätzen.
Was bedeutet das konkret?
Wenn man sich selbst herunterkühlen kann, wird man nicht Opfer der eigenen reflexartigen Reaktionen.
Welche Rolle spielt Stress bei der Selbstbeherrschung?
Wenn wir im Stress sind, fährt das heiße System hoch und das kalte System runter. Das bedeutet, dass wir über die Folgen unserer Handlungen nicht nachdenken können, wenn wir im Stress sind. Wird der Stress dagegen reduziert, kann das kalte System wieder die Kontrolle übernehmen. Stress wirkt also schädlich auf die Selbstbeherrschung – und bei kleinen Kindern ist er besonders schädlich, denn er behindert die Entwicklung des kalten Systems.
Stimmt es, dass Sie als Selbstbeherrschungsforscher beim Essen immer als Erster fertig sind – obwohl Sie das nicht wollen?
Es gibt viele Bereiche, in denen ich eine impulsive Person bleibe – glücklicherweise. Es ist richtig, dass ich meistens der Erste bin, der fertig gegessen hat. Dann sitze ich vor einem leeren Teller, während sich meine Freunde gerade ins Roastbeef vertiefen – peinlich. Aber sollte man in allem kontrolliert sein? Die Antwort ist offensichtlich: Nein. Für mich geht es darum, wirklich die Wahl zu haben im Gegensatz dazu, dass die Entscheidung getroffen wird durch die Versuchungen um mich herum. Ich bin zum Beispiel wirklich froh, dass ich damals aufgehört habe zu rauchen. Sonst säße ich hier nicht mehr heute.
Wie haben Sie es geschafft?
Ich war in der Universitätsklinik in Stanford und sah einen Patienten, der mit angsterfülltem Blick auf einem Bett durch den Gang geschoben wurde. Sein Kopf und sein Brustkorb waren rasiert, die Arme ausgebreitet. Am nackten Kopf und auf der Brust waren mit Filzstift kleine grüne Markierungen aufgemalt. Ich fragte, was mit dem Mann los sei. Der Krankenpfleger sagte: „Das sind die Markierungen, die anzeigen, wo der Patient bestrahlt werden soll. Er hat metastasierenden Lungenkrebs.“ Dieses Bild blieb mir im Kopf – und jedes Mal, wenn ich wieder eine Zigarette rauchen wollte, holte ich es mir vor Augen. Das hat gereicht.
Warum fällt es so schwer, mit dem Rauchen aufzuhören?
Beim Rauchen, beim Trinken, bei der Mousse au Chocolat fällt es schwer zu widerstehen, weil die Konsequenzen wie Krebs, Leberschäden oder Herzversagen 30 bis 40 Jahre später auftreten können. Wir aber können die Folgen unseres Verhaltens nicht so stark spüren wie das heiße Verlangen in der Gegenwart. Wir müssen es also schaffen, die Konsequenzen uns heißer spüren zu lassen und das spontane Verlangen abzukühlen. Das ist das Prinzip der Selbstkontrolle.
Im Buch schreiben Sie, das helfe sogar bei Liebeskummer?
Liebeskummer ist eines der sehr schweren Probleme. Aber auch dabei hilft es, sich zu distanzieren. Angenommen, Walter sieht als Walter auf sich und fragt sich ständig: „Warum liebt sie mich nicht, warum hat sie mich verlassen?“ Wenn er das tut, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er einfach die Geschichte wieder und wieder durchlebt. Aber wenn er sich vorstellt, er blicke wie eine Fliege an der Wand auf diesen armen Kerl, bekommt er die Chance, eine andere Geschichte zu sehen. Vielleicht erkennt er: Das war ein Bedürfnis, das sie hatte und was nicht erfüllt wurde. Und andererseits geht das wiederum in mir vor. Die Forschung sagt, dass eine solche distanzierte Perspektive hilft, seelische Wunden schneller heilen zu lassen.
Sie sind jetzt 85 – wo können Sie immer noch nicht Nein sagen?
Bei vielen Dingen sage ich Nein, aber nicht bei einer Sachertorte! Im Ernst: Die Ziele haben sich für mich verändert. Heute treibt es mich an mitzuhelfen, dass das, was wir über Selbstbeherrschung gelernt haben, auch angewendet wird. Also wie wir Menschen helfen können, die Probleme haben, sich herunterzukühlen und langfristige Ziele zu verfolgen – und das sind vor allem Kinder, die in sehr großer Armut aufwachsen.
Wie könnte ihnen geholfen werden?
Selbstkontrolle kann mit einfachen Übungen gelernt werden – Rollenspielen, Gedächtnistraining. Aber auch Übungen, in denen das Kind sich selbst laut sagt, was es tun soll. Diese Strategien sollten im Kindergarten und in der Schule gelehrt werden. Das kann helfen, die große ökonomische Kluft zwischen denen, die oben stehen in der Gesellschaft, und denen, die unten sind, zu verringern. Das Potenzial zur Veränderung ist in jedem vorhanden. Selbst Menschen, die sich erblich bedingt schlecht beherrschen können, können sich durch einfache Übungen stark verbessern.