Monatelang mit seinem Team im Dauereinsatz für Flüchtlinge: Ministerialdirektor Wolf-Dietrich Hammann Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Es wäre falsch, bei der Integration zu sparen, sagt Wolf-Dietrich Hammann. Als Amtschef im früheren Integrationsministerium stand er nach der Grenzöffnung 2015 in der ersten Reihe.

Herr Dr. Hammann, Sie sind im Herbst 2013 Amtschef im Integrationsministerium geworden. Haben Sie geahnt, was auf Sie zukommt?
Ich habe damals in einem Interview das Thema Flüchtlinge als eine der großen Aufgaben genannt - unter dem Eindruck der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa. Dass aber so viele Flüchtlinge nach Baden-Württemberg kommen würden, konnte ich mir nicht vorstellen. 2013 waren es 14 000, 2014 rund 26 000 und ein Jahr später 100 000. Nach der Grenzöffnung in Österreich und Deutschland am 4. September 2015 ist die Zahl regelrecht explodiert.
War es ein Fehler, dass Bundeskanzlerin Merkel damals erklärt hat, „wir schaffen das“?
Ich glaube, sie hatte keine Wahl. Schon damals war der Druck auf dem Balkan groß, viele Flüchtlinge waren dort unterwegs mit dem Ziel Europa und insbesondere Deutschland. Wir hatten eine humanitäre Verpflichtung. Ich hätte mir gewünscht, dass Europa die Aufgabe gemeinsam schultert.
Wie haben Sie die gewaltigen Aufgaben bewältigt?
Wir haben Tag und Nacht gearbeitet. Glücklicherweise hatten wir schon vorher neue Plätze für die Erstaufnahme geplant, weil wir wussten, dass die 1000 Plätze in der damals einzigen Landeserstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe auf Dauer nicht reichen würden. Seit Frühjahr 2013 hatten wir deshalb leer stehende Gebäude des Landes und Bundes auf ihre Tauglichkeit überprüft, so kamen beispielsweise Meßstetten und Sigmaringen dazu. Wir erhielten aber auch private Angebote. Eines Morgens wurde uns eine leer stehende Fabrikhalle angeboten, und abends konnten die ersten Flüchtlinge dort einziehen – dank der Unterstützung von Feuerwehr, Deutschem Roten Kreuz, Technischem Hilfswerk und anderen Helfern. Am nächsten Abend luden wir zu einer Veranstaltung ein, um die Bevölkerung zu informieren.
Woher hatten Sie das nötige Personal?
Viele Hauptamtliche in der Verwaltung erklärten sich bereit dazu, für eine Weile bei der Flüchtlingsunterbringung anzupacken. Wertvolle Hilfe leistete das Innenministerium mit einem eigenen Stab. Und überall meldeten sich Ehrenamtliche, die etwa bei der Essensausgabe, der Kleider- oder Bettenvergabe halfen oder erste Sprachkurse gaben. Wenn wir bei Veranstaltungen über geplante Unterkünfte informierten, hinterließen oft 100 bis 200 Menschen ihre Adresse und Telefonnummern. Und viele spendeten Kleidung, Spielzeug und mehr.
Es gab auch das Gegenteil – etwa Brandanschläge auf geplante Einrichtungen…
Ja, manche haben leider auch ein hässliches Gesicht gezeigt. Weil so schnell so viele kamen, war es schwer, alle Bürger mitzunehmen. Bei Informationsveranstaltungen waren anfangs viele skeptisch, aber das änderte sich bei den meisten nach der ersten Begegnung mit Flüchtlingen. Im Laufe jeder Veranstaltung wuchs die Akzeptanz.
Mit den Übergriffen von Flüchtlingen in der Silvesternacht in Köln und den Anschlägen in Ansbach und Würzburg wuchsen Ängste und Abwehr in der Bevölkerung. Wie stellt sich für Sie die Sicherheitslage dar?
Es ist nie auszuschließen, dass in so großen Gruppen auch einige mit radikalen Hintergründen oder Absichten dabei sind oder sich hier radikalisieren, weil sie sich ausgeschlossen fühlen. Wir haben für jede Einrichtung ein Sicherheitskonzept, um Konflikte zwischen den Flüchtlingen oder mit der Bevölkerung zu verhindern, und Mitarbeiter mit arabischen Sprachkenntnissen wiesen uns vereinzelt auf problematische Personen hin. Das Land verstärkt auch die Polizei und verbessert die Koordination mit anderen Ländern.
Kritisiert wird, dass im vergangenen Jahr viele Flüchtlinge gar nicht erfasst wurden und keiner weiß, wo sie sich aufhalten.
Alle Neuankömmlinge werden erfasst, ein Gesundheitscheck gemacht und ihre Fingerabdrücke genommen. Nur im September und Oktober war das wegen der großen Zahl nicht immer sofort möglich, wurde aber schnell nachgeholt. Aber es geht nicht nur um Sicherheit, sondern auch um Integration. Wir müssen so früh wie möglich in Bildung, Sprache und Unterbringung investieren – wir dürfen nicht die Fehler der Gastarbeiterzeit wiederholen. Das ist auch die beste Investition in die Sicherheit.
Die Wartezeiten für Sprach- und Integrationskurse sind oft lang....
Ja, wir brauchen mehr und intensivere Integrations- und Sprachkurse, aber es geht nicht alles sofort. Gut ist, dass der Bund die Kurse auch für Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive geöffnet hat. Es wird aber weiterhin viel Personal und Finanzen brauchen - auch nach der Unterbringung in den Kommunen.
Die Kommunen fordern, dass das Land die zusätzlichen 260 Millionen Euro, die der Bund bis 2018 jährlich schickt, in voller Höhe an sie weiterleitet, weil sie die Integration schultern müssten….
Wir sind in sehr guten Gesprächen mit den Kommunen. Wir wollen mit ihnen einen Integrationspakt schließen, in dem finanzielle, sachliche und andere Fragen geklärt werden. Es gibt eine große Einigkeit darüber, dass die Integration eine zentrale Bedeutung hat und es falsch wäre, dort zu sparen. Wir müssen die überwiegend jungen Flüchtlinge in die Arbeitswelt integrieren, damit sie ihr Potenzial einbringen können, auch angesichts der demografischen Entwicklung.
Die Flüchtlingszahlen sind deutlich zurückgegangen – was passiert mit den Erstaufnahmeeinrichtungen?
Eine Projektgruppe des Innenministeriums plant derzeit, welche Einrichtungen bleiben, damit wir nicht wieder in die Situation wie vor einem Jahr kommen.
Rechnen Sie mit einem Wiederanstieg der Zahlen?
Angesichts der vielen Krisenherde und den Vorgängen in der Türkei ist das nicht auszuschließen. Deshalb ist es sicher sinnvoll, Kapazitäten vorzuhalten. Das Land spricht mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge darüber, wie die Asylverfahren beschleunigt werden können.
Wie flexibel sind Sie beim Personal?
Bei den Beamten geht das gut – viele lassen sich auf neue Aufgaben ein. Die Sozialberater, die wir für die Erstaufnahme eingestellt haben, können in den Kommunen eingesetzt werden. Verpflegung und Sicherheitsdienste kommen aus privaten Firmen – mit ihnen haben wir flexible Verträge. Ähnliches gilt für die Gesundheitsversorgung, dort engagieren sich teils pensionierte Ärzte.
Auch für die Vorbereitungsklassen, in denen die Schüler Deutsch lernen, suchen Sie Lehrer im Ruhestand. Klappt das?
Ich habe Lehrer getroffen, die sich bereit erklärt haben, bei Sprach- und Integrationskursen mitzuarbeiten, teils auch ehrenamtlich. Das Land stellt aber auch rund 200 zusätzliche Lehrerstellen für Vorbereitungsklassenbereit.
Die Wirtschaft war anfangs sehr aufgeschlossen, weil sie sich Fachkräfte erhofft. Wie arbeitet sie mit?
Wirtschaft, Staat und andere tun, was nötig ist. Die Integration ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Wir können das nur bewältigen, wenn wir ein gutes Netzwerk aufbauen. Nötig sind zuallererst Sprachkenntnisse. Viele haben keine Ausbildung oder können diese nicht nachweisen. Es ist gut, dass der Bund mit dem neuen Integrationsgesetz Betrieben die Sicherheit gibt, dass Auszubildende nicht abgeschoben werden und auch danach noch zwei Jahre bleiben können. Und dass die bürokratische Vorrangprüfung abgeschafft ist.
Bund, Länder und Kommunen nehmen in diesem Jahr viel mehr Geld ein als erwartet. Hat das auch mit den Flüchtlingen zu tun?
Mit Sicherheit geht ein Teil auch auf ihr Konto. Im Bereich Flüchtlingsaufnahme und -betreuung wirde viel investiert, und es sind neue Stellen entstanden. Die Flüchtlinge tragen auch zu einem höheren Konsum bei. Und ein noch kleiner Teil der Flüchtlinge zahlt Sozialabgaben und Steuern. Viele, die kommen, sind junge Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen.
Haben Sie Ihre Entscheidung, ins Integrationsministerium zu gehen, bereut?
Für mich schloss sich ein Kreis. In den 80er Jahren war ich beim RP Tübingen für Ausländerrecht verantwortlich. Auch damals stieg die Zahl der Asylbewerber, und ich fand, dass wir mehr Integration und ein modernes Ausländerrecht und Einwanderungsgesetz brauchen. All das konnte ich im Integrationsministerium einbringen. Wir alle im Integrationsministerium haben unsere Arbeit mit Leidenschaft für die Menschen und unsere Gesellschaft gemacht.