Anja Simon will ihren Klienten keinen Zeitdruck machen – ein kleiner Kuckuck beendet für sie die Therapiesitzung. Foto: Eveline Blohmer

Germany’s Next Topmodel ist nicht schuld an Essstörungen, sondern ein fehlender Selbstwert. So sieht es Anja Simon. In ihrer Degerlocher Praxis berät sie Menschen mit Bulimie. Sie weiß, wovon sie spricht, sie litt selbst unter der Ess-Brech-Sucht.

Degerloch - Von Bulimie sind vor allem Mädchen am Ende des Jugendalters betroffen. Sie leben in einem Teufelskreis aus strenger Ernährung und Heißhungerattacken, die sie durch Erbrechen, Abführen oder extremen Sport wieder auszugleichen versuchen. Anja Simon war selbst Bulimikerin und versucht, Betroffenen zu helfen, indem der Fokus auf die eigentlichen Ursachen gelenkt wird.

Frau Simon, Alkohol und Drogen lassen sich meiden. Essen zu umgehen, ist unmöglich. Was geben Sie ihren Klientinnen mit auf den Weg? Esst dieses, vermeidet jenes?
Wir betrachten das gesamte Leben und schauen, wo etwas schiefgelaufen ist. Essen wird zwar auch thematisiert, aber der Hauptfokus geht weg. Es ist, als würden sie ständig einen Feind betrachten, das gibt diesem noch mehr Macht. Die ganzen Gedanken ums Essen werden weniger, weil sich der Fokus verändert. Wir kümmern uns aktiv um die Ursachen, die einem das Gefühl geben, falsch zu leben oder falsch zu sein. Statt um Essen kümmern sich die Betroffenen dann um die Beziehung zu ihrem Vater oder um ihren Job, der sie nicht glücklich macht.
Wie genau gehen Sie vor, um zu helfen?
Ich bezeichne mein Konzept als Hausputz. Beim Hausputz schauen wir uns alles an, es ist eine Therapie mit System: Der Keller ist sozusagen die Vergangenheit, da geht es hauptsächlich um Muster, die wir übernommen haben. Das Erdgeschoss ist ihre Gegenwart. Hier geht es unter anderem darum, wie sie sich selbst und andere sie behandeln. Im Dachgeschoss, das die Zukunft darstellt, geht es um Identität, wer sie sein wollen und wer sie wirklich sind.
Wie aktuell sind Essstörungen in einer Gesellschaft, in der gesunde Ernährung fast schon religiöse Züge hat? Inwieweit beeinflusst das die Betroffenen?
Für jemanden, der eine Essstörung hat, ist es noch schwieriger, sich zu orientieren: Heute ist Low-Carb richtig, morgen dann Trennkost. Aus Essen wird ein Hype gemacht. Die Medien geben den Betroffenen vor, wie sie sein und was sie essen müssen, sie spielen eine große Rolle, aber nicht die Hauptrolle. Ich werde oft auf Germany’s Next Topmodel angesprochen, dass die doch schuld wären. Da bin ich ganz anderer Meinung: Eine Frau mit einem gesunden Selbstwert kann diesen Medien widerstehen. Die Medien verführen, aber der Grund ist ein schlechter Selbstwert, und dieser wird leider doch sehr in der Kindheit angelegt.
Gibt es denn noch jemanden, der normal isst?
Es ist die Frage, was normal ist. Ich glaube, normal ist, sich nicht so einen Riesenkopf zu machen, sondern sich halbwegs gesund zu ernähren, möglichst ein bisschen bio oder besser Demeter, und ansonsten mal Fast Food, einen Kuchen oder eine Pizza zu essen.
Es zählt also unterm Strich, wie viele Gedanken sich jemand ums Essen macht?
Das ist das, was den Stress ausmacht. Die Annahme, es gebe ein Richtig. Ich bin kein Fan von Ernährungsplänen, denn diese geben den Klienten das Gefühl, dass es eine vorgegebene Struktur gibt, die richtig ist. Dabei hat man als Betroffener ja sowieso eine Stimme im Kopf, die sagt: Iss so und nicht anders. Und wenn man dann über so ein Verbot geht, dann kommt die Bulimie-Stimme und sagt: Jetzt ist es egal. Das heißt, die eine Stimme sagt: keine Kohlenhydrate! Also essen die Betroffenen nur Salat. Und wenn sie dann ein Brötchen essen, kommt sofort die Bulimie und sagt, das war nicht erlaubt, jetzt muss eh alles raus, jetzt können wir’s laufen lassen. Je mehr fremde Vorgaben und Verbote, desto schlechter läuft es bei den Betroffenen.
Wie kommt es, dass Sie sich dafür entschieden haben, täglich mit einer unschönen Zeit aus Ihrer Vergangenheit zu beschäftigen?
Meine frühere Erkrankung an Bulimie habe ich erfolgreich überwunden, sodass sie mich heute nicht mehr beschäftigt. Die gemachten Erfahrungen bei der Überwindung der Bulimie ermöglichen es mir heute, mit größerem Einfühlungsvermögen und einem neuen Ansatz die Erkrankung zu behandeln. Wenn man in der Essstörung drin ist, ist es tatsächlich ein Drama, weil Sie in der Regel mit ihrem Alltag kämpfen. Aber es ist auch ein sehr großes Geschenk. Ich glaube, auf Chinesisch heißt Krise gleichzeitig Chance. Die Menschen, die eine Essstörung haben, kommen in eine Krise und müssen, um herauszukommen, hinschauen, wo sie sind, wer sie sind und wo sie hinwollen. Diese Identitätsarbeit macht mir sehr viel Spaß. Das Schöne ist auch, Leute zu sehen, die hier sitzen und weinen, und ich weiß: Es dauert nicht lang, und es läuft wieder.
Hatten Sie auch schon mal bei einer Klientin das Gefühl, dass es nicht wieder läuft?
Ja natürlich. Die Basis für eine erfolgreiche Behandlung ist in erster Linie die Akzeptanz der Eigenverantwortung im Laufe der Behandlung. Wichtig ist es, eine tragbare Basis herzustellen. Das heißt, es kommt darauf an, ob die Betroffenen Eigenverantwortung letztlich übernehmen und eine wöchentliche Therapie ausreicht. Ich würde es anmaßend finden zu sagen, ich kann jeden retten, denn das stimmt nicht. Jeder muss sich selbst retten, und manchmal braucht man verschiedene Wege. Meine Klienten haben im Durchschnitt ungefähr zwei, drei Kliniken oder ambulante Therapien hinter sich.
Sind Essstörungen eingedenk der Krisengebiete dieser Welt ein Wohlstandsproblem?
Meines Erachtens macht es einem der Kapitalismus einfacher, sich zu verlieren. Wer in ärmeren Regionen aufwächst, arbeitet häufig an seinen Grundbedürfnissen wie Existenzsicherung. Es geht weniger darum, etwas darzustellen oder sich um seine Selbstverwirklichung zu kümmern. Es geht darum, eine Arbeit zu finden und zu überleben. Mit der Wahlmöglichkeit sind auch Strukturen verloren gegangen, die einem früher Stabilität gegeben haben. In den Industrienationen müssen oft beide Partner arbeiten, damit das Geld reicht. Das heißt, die Kinder haben das Behütete gar nicht mehr so. Früher waren Rollen mehr festgelegt, die Mutter war zu Hause und war meistens ein Ruhepol, wenn der Mann nach Hause kam. Heute sind beide gestresst. Ich glaube, es hat unter anderem gesellschaftlich etwas mit dem Wandel zu tun in der Frauen- und Männerrolle. Heute muss sich die Frau, in all den Wahlmöglichkeiten neu definieren.
Da geben Sie den Müttern aber ganz schön viel Verantwortung.
Ja, überhaupt den Frauen. Das ist natürlich sehr gesellschaftskritisch. Emanzipation ist was sehr Tolles, ich würd’ es nicht missen wollen, aber viele Frauen haben es etwas übertrieben. Betroffene denken häufig, sie müssen genauso Leistung bringen wie ein Kerl und gleichzeitig noch ihre Frau stehen und sich für andere aufopfern. Und das funktioniert nicht. Wir haben weiche Attribute, und das ist auch etwas Schönes. Viele meiner Klienten haben eine Schwäche gemeinsam: Sie sind zu stark. Sie zeigen ihre weiche Seite nicht nach außen, holen sich keine Hilfe, sondern machen zu viel mit sich alleine aus. Sie denken, sie müssen ihre Drachen alleine töten, sie zeigen sich nicht und fühlen sich häufig einsam. Nach außen wirken sie stark, aber im Inneren sind sie sehr verletzlich.
Das Gespräch führte Eveline Blohmer.

Zur Person Anja Simon:

Anja Simon hat Soziologie, Betriebswirtschaftslehre und Pädagogik studiert. Doch weil sie während ihres Studiums selbst an Bulimie litt, beschäftigte sie sich eingehender mit der Essstörung und wurde Heilpraktikerin für Psychotherapie. Seit sechs Jahren versucht die 37-Jährige jenen zu helfen, die ihre Ess-Brech-Sucht noch nicht überwunden haben. Seit zwei Jahren hat sie ihre Praxis in Degerloch.

Anja Simons Praxis ist an der Großen Falterstraße 1. Dort empfängt sie derzeit rund 20 betroffene Frauen, berät aber auch Angehörige. Weitere Infos unter www.bulimio.de.