Stuttgarts Schauspiel-Intendant Armin Petras plant ein Projekt im Nord. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Die kleine Bühne Nord in Stuttgart wird zu einem Theater-Labor. Ein Gespräch mit dem künstlerischen Leiter Armin Petras über Mitmachtheater, Flüchtlinge und Humanismus.

Stuttgart – - Herr Petras, hat etwas in der Spielstätte Nord nicht funktioniert, dass Sie nun ein Konzept mit zweimonatigen Spiel-Laboren entwickeln?
Ja und nein. Das Nord funktioniert durchaus. Die Auslastung ist mit 90 Prozent ziemlich hoch, sogar deutlich besser als im Schauspielhaus. Und das Nord mit seinen tollen Arbeitsbedingungen ist auch ein großes Geschenk für uns Künstler. Wir haben aber das Gefühl, dass der Ort wirklich weit weg wirkt, als sei er kaum mehr Teil der Stadt, obwohl er ja nur wenige Stationen vom Hauptbahnhof entfernt ist. Das Nord ist als Theaterort nicht lebendig. Wir wollen ausprobieren, ob das Nord nicht ein zumindest temporär urbanerer Ort werden kann.
Wie soll das geschehen?
Wir versuchen, neue Publikumsschichten und Leute aus dem Stadtteil zu gewinnen. Deshalb haben wir uns zusammengesetzt und zwei Blöcke vorbereitet, einen verantworte ich künstlerisch, den nächsten Schorsch Kamerun. Wir arbeiten auch mit Partner-Institutionen wie der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart zusammen, mit Laien auf der Bühne, zeigen Gastspiele, Kunst-Installationen, machen Spaziergänge und Partys. Bisher war es so, dass die Menschen nach der Vorstellung gleich wieder weggingen. Wir hoffen, sie länger bei uns zu behalten – mit unserem Plan, dort verlängerte Wochenenden zu gestalten und von donnerstags bis sonntags durchzuspielen.
Dass Menschen bisher nicht so gern Zeit im Nord verbracht haben, liegt womöglich an der Gastronomie. Das Angebot ist recht dürftig.
Absolut, aber es fehlt vor allem an urbanen Strukturen, und bei aller intellektueller Anstrengung muss ich mich als Besucher wohlfühlen. Deshalb haben wir auch ein Format dazugenommen, bei dem die Begegnung in der Küche im Zentrum steht: Die „Kulturküche“, die mit den Schauspielerinnen Rahel Ohm, Susanne Schieffer und Gästen stattfinden wird und Menschen an einen Tisch bringt, um sich über das Essen und das Reden übers Essen kennenzulernen.
Die unwirtliche Umgebung – Autohäuser, Versicherungen, Polizei – mit Mitmachtheater zu beleben klingt nach soziokultureller Arbeit. Was hat das mit Ihrem Kunstauftrag zu tun?
Das Labor ist ja keine soziokulturelle Angelegenheit – und es muss auch niemand Angst vor „Mitmachtheater“ haben. Wir haben in der Tat einen Kunstauftrag. Und der lautet zu schauen: Wie funktioniert Theater auch noch? Wir machen ja Stücke wie „Der Sturm“ oder „Herbstsonate“ und zeigen klassische Theaterformen. Ich bin aber immer schon der Meinung gewesen, dass es verschiedene Formen geben muss. Das Stadttheater ist ein Ort, wo diese ausprobiert werden können.
„Abschied von gestern“ heißt das Labor. Interessant, wo Sie nun Stuttgart nicht Ade sagen, sondern als Intendant verlängern. Kamen Sie auf den Titel während der Vertragsgespräche?
(Lacht) Das hatte gar nichts damit zu tun. Wir haben schon im vergangenen Mai zu planen begonnen, damals dachte ich, dass die Intendanzentscheidung erst im April 2016 anstünde. „Abschied von gestern“ – so heißt ja ein Film von Alexander Kluge. Das war zunächst ein Arbeitstitel, den aber bis zuletzt alle passend fanden für das, was wir mit diesem Teil des Nordlabors über unsere Gegenwart und auch über die Stadt erzählen wollen. Dass ich mich dafür interessiere, wie man mit Schmerz und Alter und Abschied umgeht, hat auch mit der Stadt zu tun. Als ich in Berlin war, habe ich in einer jüngereren Stadt gearbeitet, einer Stadt im Umbruch. Hier in Stuttgart sehe ich eher die demografischen Probleme. Und ich sehe hier viele Menschen, denen es finanziell, aber vielleicht nicht seelisch gutgeht.
Wie wollen Sie diese Themen umsetzen?
Wir haben einen Abend, in dem wir Witwen zu Wort kommen lassen, bei meiner „Wellenreiter“-Inszenierung sind Schauspielerinnen und Töchter mit besonderen Talenten auf der Bühne. „Der Hals der Giraffe“, der Roman von Judith Schalansky, handelt von einer älteren Lehrerin. Die Thematik vieler Projekte kreist um erwachsene Menschen, deren Leben so nicht weiterlebbar ist, die gezwungen sind, sich zu einer Veränderung im Leben zu verhalten. Seit im Sommer das Flüchtlingsthema hinzukam, hört man ja selbst von Politikern: So wie es war, wird es nicht weitergehen.
Angesichts des heftigen Applauses nach der Premiere von „zeit zu lieben, zeit zu sterben“ kürzlich im Schauspielhaus, in dem es eher um Probleme des Erwachsenwerdens ging, könnte man sich aber fragen: Wollen Ältere nicht lieber etwas von der Jugend erfahren?
Antú Romero Nunes’ Inszenierung ist fetzig, schnell und voller positiver Energie. Und doch sind in dem Text von Fritz Kater viele dunkle Stellen. Aber natürlich ist es ein eher jugendlicher Abend, verglichen mit meiner Inszenierung von Shakespeares Alterswerk „Der Sturm“, der düster genug geworden ist. Wir finden, es muss beides geben.
Eines Ihrer Projekte heißt „The King’s Wives“. Ein Abend mit Witwen. Warum keine Witwer?
Wir hatten auch nach Witwern gefragt, weshalb Schauspielerinnen und Schauspieler bei dem Abend zu erleben sind. Doch es haben sich fast nur Frauen gemeldet. Bei dem Projekt wollten wir auf die klassische Aufteilung Autor, Regie, Schauspieler verzichten. Die Schauspieler und die Witwen haben sich unterhalten, und – mit Hilfe von Dramaturgen und von mir – sind Texte für den Abend entstanden.
Fast jedes Theater will seine Relevanz betonen, indem es Flüchtlinge auf die Bühne holt. Das tun Sie nun auch mit „Herakles’ Kinder“.
Ich habe schon 1999 als Oberspielleiter in Kassel ein Projekt „Festung Europa“ gemacht. Das ist 16 Jahre her. Und heute eben relevanter denn je. In der Tat hatten wir schon vor dem Sommer, als das Flüchtlingsthema massiv aufkam, den Herakles-Text vorgeschlagen. Wir arbeiten da mit Geflüchteten, die schon Theatererfahrungen gemacht haben. Ich inszeniere den Abend gemeinsam mit Adelheid Schulz, die mit der Gruppe schon länger arbeitet. Es geht uns bei dem Abend um Grundsätzliches, um Selbstvergewisserung. Um die Frage: Was ist Demokratie, wer sind wir?
Und?
Ich lese im Flugzeug immer gern die „Super-Illu“ – deren großer Aufmacher war zuletzt das Thema Werte und dass wir den Flüchtlingen ja unsere Werte vermitteln wollen. Doch was sind denn unsere Werte? In der Zeitung wird auch Ex-Ministerpräsident Manfred Stolpe zitiert, der sprach von Humanismus und Lessing, da kommt man also wieder beim Theater an. Und das ist wirklich eine Frage, die wir uns stellen bei „Abschied von gestern“: Sind das noch unsere Werte, wie lange existieren die noch?
Zur Person:

1964 in Meschede/Sauerland geboren, wächst Armin Petras von 1969 an in Ostberlin auf. Nach dem Regiestudium siedelt er 1988 nach Westberlin.

Regiearbeiten an verschiedenen Theatern, Theaterleitung unter anderem in Kassel, Frankfurt und zuletzt am Maxim-Gorki-Theater Berlin. Unter dem Pseudonym Fritz Kater schreibt Petras auch Theaterstücke.

Seit 2013 leitet Armin Petras das Staatsschauspiel Stuttgart. Kürzlich wurde seine Intendanz bis 2021 verlängert. (StN)

Das Projekt Nord-Labor: Termine:

Stuttgarts Schauspielhaus-Chef Armin Petras ist künstlerischer Leiter des „Nord-Labors 1“ in der Studiobühne Nord (Löwentorstraße 68) vom 9. Januar bis zum 20. Februar.

Auftakt am 9. 1.: „Nach Norden! Ein Spaziergang“ mit den Schauspielern Manuel Harder und Christian Czeremnych, Beginn um 19 Uhr am Schauspielhaus (Oberer Schlossgarten 6). „Abschiedsparty“ um 21 Uhr (Eintritt frei). „Tiefer als die Nacht“ ab 23 Uhr – Trip hinter die Kulissen des Nord, unter anderem zu erleben ist Schauspieler Elmar Roloff mit Passagen aus Samuel Becketts Drama „Das letzte Band“.

Die erste Woche: „Erinnerungsskulptur“ am 14. 1. um 18 Uhr (Eintritt frei): Wer möchte, darf Dinge mitbringen und abgeben, von denen er sich verabschieden möchte. „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky mit Anja Schneider (Foto links) und Svenja Liesau, Regie: Armin Petras. Premiere am 14. 1. um 19 Uhr. „Ein-Norden“ am 15. 1. um 18 Uhr (Eintritt frei): Mitmachangebot: Ideen und Gedanken zum Thema Abschied von gestern sammeln. „Fräulein Else“ von Arthur Schnitzler, inszeniert vom Schauspieler Wolfgang Michalek. Premiere am 15. 1. um 20 Uhr. „wellenreiter oder my daughters running through my veines“ nach Anton Tschechow mit Wolfgang Michalek (Foto rechts), bearbeitet und inszeniert von Armin Petras. Premiere: 16. 1. um 21 Uhr

Weitere Premieren und Projekte: „Kulturküche: Die Maultasche ist überall“ – kulinarisches Projekt mit Rahel Ohm, Susanne Schieffer und Gästen aus aller Welt, erstmals am 21. 1. um 18 Uhr. „Die Anmaßung“ von Carsten Brandau, ein Stück über den Schauspieler Manuel Harder, gespielt von Manuel Harder, inszeniert von Florian von Hoermann. Premiere: 21. 1., 20 Uhr. „Beautiful Losers“ – ein musikalischer Abend nach Leonard Cohen von und mit Hanna Plaß und dem Posaunenchor der Evangelischen Christuskirche Stuttgart am 30. 1. um 20 Uhr.

Ausblick auf Februar: „The King’s Wives“ von und mit Witwen aus Stuttgart, Armin Petras und Ensemble: Uraufführung: 5. 2. um 21 Uhr. „Demon Crater“ – ein interdisziplinärer Abend, inszeniert von der Schauspielerin Manja Kuhl. Premiere am 6. 2. um 20 Uhr außer Haus in der Tübinger Straße 77/1 (Eintritt frei). „Herakles’ Kinder“ nach Euripides mit einem Chor von Geflüchteten, inszeniert von Armin Petras und Adelheid Schulz. Premiere: 11. 2. um 21 Uhr.

Labor 2: Im Frühjahr 2016 bespielt der Künstler Schorsch Kamerun das zweite Nord-Labor unter dem Titel „Das glaubst du ja wohl selber nicht“.

Karten: 07 11 / 20 20 90.

Ausführliches Programm: www.schauspiel-stuttgart.de