Die Feldwege rund um das Stammheimer Gefängnis sind das Laufrevier von Arne Gabius. Foto: dpa

Mit großen Zielen geht Arne Gabius am Sonntag beim London-Marathon an den Start – und sorgt sich angesichts der Dominanz von König Fußball um den deutschen Sport.

Stuttgart - Am Sonntag geht Arne Gabius, Deutschlands bester Langstreckenläufer, beim Marathon-Klassiker in London an den Start und will eine neue Bestzeit laufen. An der Themse misst sich der 35-jährige Stuttgarter mit der versammelte Weltelite – als Einstimmung auf den olympischen Marathon in Rio. „Ich bin sehr gut vorbereitet“, sagt Gabius – und macht sich trotzdem Sorgen um die deutsche Leichtathletik.

Herr Gabius, in London werden am Sonntag Hundertausende von Zuschauern an der Strecke stehen – andere Leichtathletikveranstaltungen finden fast vor Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Ist die Leichtathletik zur Randsportart geworden?
In der öffentlichen Wahrnehmung schon. Der Fußball dominiert alles. Er ist ja auch ein tolles Produkt. Wenn ich Sponsor wäre, würde ich auch denken: das ist eine sichere Bank. Fußball kommt dauernd im Fernsehen, und wenn ein einzelner Spieler mal verletzt ist, geht es trotzdem weiter. In Individualsportarten ist das anders. Da gibt es Ausfälle. Und man kann auch nicht jede Woche einen Marathon laufen.
Interessiert sich wirklich niemand mehr für die Leichtathletik?
Doch. Auch als ich neulich in Berlin den Halbmarathon gelaufen bin (Platz vier in 62:45 Minuten/Anm. d. Red.), standen 250 000 Zuschauer an der Strecke. Die Stimmung war super. Und ich erinnere mich noch gut an die riesige Begeisterung bei der Leichtathletik-WM 1993 in Stuttgart. Das ist ja auch noch keine Ewigkeit her. Deshalb glaube ich, dass die Fernsehpräsenz des Fußballs das wirkliche Bild verzerrt.
Woran liegt es dann, dass die Leichtathletik so selten übertragen wird?
Einerseits fällt es den Zuschauern immer schwerer, sich mit den Athleten zu identifizieren, sie überhaupt zu kennen. Auf der Langstrecke gab es früher immer das Duell zwischen Haile Gebrselassie und Paul Tergat, hinzu kamen Dieter Baumann und ein, zwei andere Europäer. Heutzutage ist nur noch von „den Kenianern“ die Rede. Andererseits müsste der Sport besser präsentiert werden.
Wie denn?
Es gibt schon einige neue Konzepte. Beim Meeting in Zürich hat man das Kugelstoßen im Hauptbahnhof veranstaltet. Der Stabhochsprung wird auch immer öfter zum Event in der Stadtmitte gemacht. Das sind richtige Ansätze, die man weiter forcieren muss. Wenn die Zuschauer nicht mehr ins Stadion kommen, muss die Leichtathletik zu den Zuschauern kommen.
Fußballer verdienen Millionen. Ist es für einen Leichtathleten überhaupt möglich, finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen?
Es ist schwierig. Man benötigt definitiv einen Plan B. Viele studieren nebenher – und haben dann häufig den Druck, gleich in den Beruf einzusteigen, weil sie sonst fürchten müssen, zum alten Eisen zu gehören.
Trotzdem ruft die Öffentlichkeit immer nach Medaillen. Passt das zusammen?
Überhaupt nicht. Es wird auf der einen Seite absolute Höchstleistung und Professionalität verlangt - auf der anderen Seite aber ist die Finanzierung amateurhaft. Der gesamte Sport in Deutschland wird vom Bundesinnenministerium mit 167 Millionen Euro unterstützt. Darin sind alle Olympiastützpunkte enthalten, der gesamte Funktionärsapparat und so weiter. Das ist sehr, sehr wenig Geld. Zum Vergleich: dieses Budget steht in den USA allein der Leichtathletik zur Verfügung. Und der FC Bayern zahlt seinen Spielern weit mehr als 200 Millionen.
Wie müsste sich die Förderung ändern?
Die Briten machen es vor, indem sie den Sport halbstaatlich gemacht haben. Bei uns dagegen ist es so, dass der Staat einfach nur das Geld gibt, und der Sport sieht zu, was er damit anstellt. Man müsste das viel besser strukturieren, effizienter machen und ebenfalls verhalbstaatlichen. Es gibt zwar einige Modelle staatlicher Förderung wie die Bundeswehr oder Bundespolizei, bei der manche Athleten angestellt sind. Aber es ist nicht für jeden passend, weil die Berufswahl sehr eingeschränkt ist. Es gibt einen extrem großen Nachholbedarf. Da darf man länger nicht warten.
Sonst geht vermutlich auch immer mehr Nachwuchs verloren.
Wenn es in der Spitze keine Idole gibt, vergibt man die Möglichkeit, auf die Sportart aufmerksam zu machen. Nicht jedes Kind mag Fußball. Es muss aber wissen, was es sonst noch gibt. Man sieht es am Handball: Nach dem EM-Titel haben die Vereine unheimlichen Zulauf bekommen. Darum geht es: dass die Elite Werbung für ihre Sportart macht. Wir müssen den Kindern die Vielfalt der deutschen Sportlandschaft nahebringen. Das erhoffe ich mir jetzt wieder von den Olympischen Spielen. Vielleicht gibt das etwas neuen Schwung.
Allerdings sind in Rio auch die Fußballer mit gleich zwei Mannschaften vertreten und dürften Liveübertragungen sicher haben.
Die Fußballer haben dort nichts verloren. Olympia ist die einzige Plattform für Sportarten, die sonst nie gezeigt werden, die aber auch ihre Daseinsberechtigung haben – sei es Bogenschießen oder Badminton.

Zur Person – Der Marathonmann

Laufbahn: Als Mittelstreckler hat Arne Gabius, in Hamburg geboren und in Stuttgart-Stammheim wohnhaft, insgesamt 17 deutsche Meistertitel gewonnen. Sein größter Erfolg war die Silbermedaille über 5000 Meter bei der Leichtathletik-EM 2012 in Helsinki. Nach der WM 2015 in Peking verabschiedete er sich von der Bahn und startete seine Karriere als Straßenläufer.

Straße: Bei seinem zweiten Marathon verbesserte Gabius im vergangenen Oktober in Frankfurt in 2:08:33 Stunden den 27 Jahre alten deutschen Rekord. Nach dem Rennen in London konzentriert er sich ganz auf den olympischen Marathon in Rio. In seinen Trainingslagern in Kenia ist er in den vergangenen Monaten bis zu 240 Kilometern in der Woche gelaufen.